Kant reloaded

Wie weit muss Hilfsbereitschaft gehen?

Portrait von Immanuel Kant - darauf steht die Frage "Was soll ich tun"
Was soll ich tun? Diese Frage stellt sich anlässlich des Ukrainekriegs für die Autorin Heike Melba-Fendel ganz konkret. © picture alliance
Gedanken von Heike-Melba Fendel |
Die Autorin Heike-Melba Fendel hat Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Nun wünscht sie sich ihre Wohnung für sich allein – und muss eine der philosophischen Grundfragen Immanuel Kants stellen: Was soll ich tun? Darf ich nur an mich denken?
Unterkunft Ukraine ruft an. Ich habe die Nummer nicht eingespeichert und doch weiß ich gleich, wer hier kurz vor Weihnachten ein Zimmer von mir will. Es ist eine Düsseldorfer Nummer, und mit Düsseldorf habe ich ansonsten nichts am Hut. Mit "Unterkunft Ukraine" jetzt grad auch nicht. Ich nehme nicht ab.
Galina und Oxana sind gestern ausgezogen. Ich konnte sie für vier Monate bei Freunden unterbringen, die im Süden überwintern. "Unterkunft Ukraine" wittert so etwas. Sie wittern freie Zimmer über die knapp 600 Kilometer Distanz zwischen Düsseldorf und Berlin. Ich jedoch wittere Ruhe – endlich.

Wohnung teilen mit Geflüchteten

Neun Monate habe ich nicht mehr im eigenen Bett geschlafen, sondern im Gästezimmer oder auf dem Sofa im Wohnzimmer, wenn mehr als zwei Personen Unterschlupf brauchten – wie der iranische LKW-Fahrer und seine aserbaidschanischen Freunde, zwei Schuhverkäufer, die gleich zu Kriegsbeginn aus Charkiw geflohen waren.

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Es folgten zwei IT-Studenten, die jeden Abend ihre Mütter in ihrer nigerianischen Heimat anriefen, wo diese für ihre Söhne – und mich – beteten. Am längsten blieb die dreiköpfige muslimische Familie, auch sie aus Charkiw. Die junge Mutter mit den halbwüchsigen Kindern wienerte meine Wohnung täglich voller Inbrunst.
Alle Gäste schenkten mir etwas zum Abschied, ob nach Tagen, Wochen oder Monaten. Erstaunlich häufig handelte es sich bei diesen Geschenken um alkoholfreien Schaumwein von Rossmann, den in den prächtigen Flaschen aus pinkem Riffelglas.

Saisonale Hilfsbereitschaft

Natürlich war ich keine Ausnahme: Alle, so schien es, halfen zunächst mit. Auf meine erste Anfang März vom Berliner Hauptbahnhof verschickte Rundmail meldeten sich 30 potenzielle Gastgeberinnen für die Gestrandeten. Ab dem Frühsommer dünnten die Antworten auf vergleichbare Anfragen aus, bis irgendwann niemand aus meinem Bekanntenkreis mehr irgendjemanden aufnehmen konnte – oder wollte.
Ich schimpfte auf meine Freunde, monierte ihre Mental-Health-Issues, ihr Ruhebedürfnis und das Saisonale ihrer Hilfsbereitschaft. Irgendein Egoismus-Alarm in ihrem Leben schien scharf gestellt und erinnerte sie beizeiten an ihr Leben vor jenem Krieg, der jetzt wieder der Krieg der anderen war. Sie schienen auf die Seiten jener gewechselt, die von Anfang gesagt hatten: Also, ich könnte das nicht – und ständig wissen wollen, ob es mich nicht nervt mit den fremden Menschen in der Wohnung, ob es mir nicht langsam reicht? Die Haare im Abfluss, der Lärm in der Küche, der Nagellackfleck auf dem Parkett.

Darf ich ablehnen?

Aber jetzt ist ja Ruhe. Jetzt verstehe ich meine Freunde. Einen Tag lang habe ich geputzt, das Bett frisch bezogen, die Matratze im Schlafzimmer umgedreht. Sogar der Nagellack ließ sich entfernen. Endlich habe ich vielleicht nicht mein Leben, aber doch mindestens meine Wohnung zurück.
Und der häusliche Friede ist weiß Gott verdient. Habe ich nicht viel mehr als viele andere getan? Kann und darf, ja muss ich nicht auch einmal an mich und alle und alles denken, was in den vergangenen zehn Monaten zu kurz gekommen ist? Darf ich diesen Krieg nicht auch mal bis auf weiteres in den toten Winkel seiner Medialisierung verschieben?
Ich schaue auf die Sammlung pinker Schaumweinflaschen und höre das verständnisvolle Ja der Therapeuten, Freundinnen und Self-Care-Verfechter als Antwort auf diese Fragen.

Die Wirklichkeit gibt die Antwort

"Unterkunft Ukraine" hat mir inzwischen eine Mail geschickt. Ich lese sie im Schlafzimmer. Leider hätten sie mich telefonisch nicht erreicht, aber Grace und Emil suchen dringend ein Zimmer, idealerweise ab sofort, ob bei mir …
In Berlin leben über dreieinhalb Millionen Menschen. Wäre nicht wer von denen an der Reihe? Ist es jetzt nicht wirklich mal genug? Hört das denn nie mehr auf? Ich schaue auf die blütenweiße, frisch gebügelte Bettwäsche und höre das verständnislose Nein der Wirklichkeit als Antwort auf diese Fragen. Dann atme ich tief durch und gebe meine Antwort ein.

Heike-Melba Fendel ist Künstler-Agentin und Inhaberin der Agentur Barbarella Entertainment. Sie arbeitet außerdem als Journalistin und Buchautorin. Fendel gehört zum Autorinnenkollektiv der Kolumne „10 nach 8 – politisch, poetisch, polemisch“ auf zeit.de. 2009 erschien ihr aus 99 Geschichten bestehender Roman „nur die“ bei Hoffmann und Campe. Ihr zweiter Roman „Zehn Tage im Februar“ (2017) spielt vor dem Hintergrund der Berlinale.

Die Autorin Heike Melba-Fendel
© Markus Nass
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