Kanzlerdemokratie
Morgen in drei Wochen hat der Souverän das Wort. Das Volk entscheidet dann, wer das Land regiert. Das ist gut. Denn noch amtiert ein Regierungschef, der sagt, dass er, mangels eines notwendigen Vertrauens in den eigenen Reihen, nicht das tun kann, was er zum Wohle des Landes für notwendig hält.
Jenseits aller juristischen Erwägungen sollte nicht vergessen werden, dass Gerhard Schröder seine politische Handlungsunfähigkeit erklärt hat. Wer die Hoffnung hegte, das Bundesverfassungsgericht möge seiner Beurteilung und der des Bundespräsidenten, der Neuwahlen angesetzt hat, widersprechen, war bereit, hinzunehmen, dass die Lösung der drängenden Probleme Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Zerrüttung der sozialen Sicherungssysteme für ein weiteres Jahr verschoben wird. Aus guten Gründen haben alle demokratischen Parteien, der Bundespräsident und nun auch das Bundesverfassungsgericht den Weg für Neuwahlen freigemacht. Die Entscheidung aus Karlsruhe kann jeder Demokrat nur mit Erleichterung aufnehmen.
Das Verfahren zur Herbeiführung von Neuwahlen und die Begründung des Urteils werfen jedoch viele Fragen auf, die weit über die aktuelle politische Lage hinausreichen. Die Mehrheit der Verfassungsrichter hat - anders als vor 22 Jahren - gar kein Bauchgrimmen über eine unechte Vertrauensabstimmung verspürt. War damals noch die Mahnung enthalten: "So bitte nicht noch einmal", so können sich jetzt künftige Kanzler und Kanzlerinnen frei fühlen, diesen Weg zu Neuwahlen zu beschreiten, wenn sie dies denn wollen. Es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass der Kanzler Gerhard Schröder am Wahltag erleben dürfte, dass er sich verschätzt hat, dass die vorzeitige Neuwahl für ihn kein Neuanfang, sondern das Ende bedeutet.
Nicht Gerhard Schröder, wohl aber der Bundeskanzler als Verfassungsorgan ist gestärkt worden. Das Wort "Kanzlerdemokratie" drängt sich auf - nicht zum ersten Mal und durchaus nicht im Widerspruch zu Überlegungen der Väter und Mütter des Grundgesetzes. Die starke Stellung des Kanzlers durch die Kompetenz, die Richtlinien der Politik zu bestimmen und durch die Bestimmung, dass er nur auf dem Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums gestürzt werden kann, war eine Antwort auf die instabilen Verhältnisse der Weimarer Republik. Der Kanzler wurde gestärkt, der Präsident geschwächt, wurde zu einer Reservemacht. Gleich der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, hat die Fülle der Macht ausgeschöpft. Die noch junge Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich zur Kanzlerdemokratie.
Nicht zuletzt die starke Stellung des Kanzlers hat bewirkt, dass die zweite deutsche Demokratie eine stabile Demokratie ist. Wo die Stabilität verloren ging, so in der Kanzlerschaft bei Ludwig Erhard, Willy Brandt und Helmut Schmidt haben neue Regierungen das entstandene Machtvakuum wieder gefüllt.
Das Verfassungssystem hat sich bewährt. Auch deshalb, weil die Stärke des Kanzlers nie außer Kontrolle geriet. Ja, ohne die Kompetenzen, die ihm die Verfassung zubilligt, wäre er zu schwach, zu abhängig von den Parteien, die ihn stützen. Denn trotz der in der Verfassung verankerten Richtlinienkompetenz kann der Kanzler nicht gegen die Stimmung in seiner eigenen Partei und ganz sicher nicht gegen die Auffassungen des Koalitionspartners regieren.
Im System von Macht und Gegenmacht - von "checks and balances" - liegt also die Kontrollmacht nicht nur beim Parlament, das ihn wählt und abwählen kann, sondern auch und vor allem in seiner Partei und beim Koalitionspartner. Der Bundestag hat über die Jahrzehnte zweifellos an Macht eingebüßt, aber nicht oder nicht nur zugunsten des Kanzlers. Die unübersehbare Machtverschiebung ist die Schwächung des einzelnen Abgeordneten gegenüber der Fraktionsführung. Die Versuche, durch eine Parlamentsreform den einzelnen Abgeordneten in seiner Gewissensfreiheit zu stärken, sind alle gescheitert. Fraktionsvorsitzende verstehen sich als Zuchtmeister, als Organisatoren der Mehrheit für den Kanzler. Dies umso stärker, je schmaler die parlamentarische Mehrheit ist. Der einzelne Abgeordnete kann sich inzwischen besser außerhalb des Parlaments, z. B. in Talkshows und in Interviews, profilieren als im Parlament selber.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat zweifellos den Kanzler gestärkt und den einzelnen Abgeordneten geschwächt. Deshalb wäre es nahe liegend, wenn sich Abgeordnete aller Fraktionen im nächsten Bundestag zusammentun, um ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages im Grundgesetz zu verankern. Dies empfehlen die Verfassungsrichter nicht, dies wäre aber die selbstbewusste Antwort von Parlamentariern, die ihre schleichende Entmachtung stoppen wollen. Dies würde sie nicht nur gegenüber einem Kanzler, der mit Neuwahlen droht, stärken, sondern auch gegenüber ihren Fraktions- und Parteiführungen. Ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages würde auch eine Neuauflage des unwürdigen Schauspiels einer inszenierten Vertrauensabstimmung verhindern. Wer heute Neuwahlen für den saubersten Weg aus der Krise hält muss auch dafür sorgen, dass der Weg zum Ziel ein gradliniger ist.
Das Verfahren zur Herbeiführung von Neuwahlen und die Begründung des Urteils werfen jedoch viele Fragen auf, die weit über die aktuelle politische Lage hinausreichen. Die Mehrheit der Verfassungsrichter hat - anders als vor 22 Jahren - gar kein Bauchgrimmen über eine unechte Vertrauensabstimmung verspürt. War damals noch die Mahnung enthalten: "So bitte nicht noch einmal", so können sich jetzt künftige Kanzler und Kanzlerinnen frei fühlen, diesen Weg zu Neuwahlen zu beschreiten, wenn sie dies denn wollen. Es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass der Kanzler Gerhard Schröder am Wahltag erleben dürfte, dass er sich verschätzt hat, dass die vorzeitige Neuwahl für ihn kein Neuanfang, sondern das Ende bedeutet.
Nicht Gerhard Schröder, wohl aber der Bundeskanzler als Verfassungsorgan ist gestärkt worden. Das Wort "Kanzlerdemokratie" drängt sich auf - nicht zum ersten Mal und durchaus nicht im Widerspruch zu Überlegungen der Väter und Mütter des Grundgesetzes. Die starke Stellung des Kanzlers durch die Kompetenz, die Richtlinien der Politik zu bestimmen und durch die Bestimmung, dass er nur auf dem Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums gestürzt werden kann, war eine Antwort auf die instabilen Verhältnisse der Weimarer Republik. Der Kanzler wurde gestärkt, der Präsident geschwächt, wurde zu einer Reservemacht. Gleich der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, hat die Fülle der Macht ausgeschöpft. Die noch junge Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich zur Kanzlerdemokratie.
Nicht zuletzt die starke Stellung des Kanzlers hat bewirkt, dass die zweite deutsche Demokratie eine stabile Demokratie ist. Wo die Stabilität verloren ging, so in der Kanzlerschaft bei Ludwig Erhard, Willy Brandt und Helmut Schmidt haben neue Regierungen das entstandene Machtvakuum wieder gefüllt.
Das Verfassungssystem hat sich bewährt. Auch deshalb, weil die Stärke des Kanzlers nie außer Kontrolle geriet. Ja, ohne die Kompetenzen, die ihm die Verfassung zubilligt, wäre er zu schwach, zu abhängig von den Parteien, die ihn stützen. Denn trotz der in der Verfassung verankerten Richtlinienkompetenz kann der Kanzler nicht gegen die Stimmung in seiner eigenen Partei und ganz sicher nicht gegen die Auffassungen des Koalitionspartners regieren.
Im System von Macht und Gegenmacht - von "checks and balances" - liegt also die Kontrollmacht nicht nur beim Parlament, das ihn wählt und abwählen kann, sondern auch und vor allem in seiner Partei und beim Koalitionspartner. Der Bundestag hat über die Jahrzehnte zweifellos an Macht eingebüßt, aber nicht oder nicht nur zugunsten des Kanzlers. Die unübersehbare Machtverschiebung ist die Schwächung des einzelnen Abgeordneten gegenüber der Fraktionsführung. Die Versuche, durch eine Parlamentsreform den einzelnen Abgeordneten in seiner Gewissensfreiheit zu stärken, sind alle gescheitert. Fraktionsvorsitzende verstehen sich als Zuchtmeister, als Organisatoren der Mehrheit für den Kanzler. Dies umso stärker, je schmaler die parlamentarische Mehrheit ist. Der einzelne Abgeordnete kann sich inzwischen besser außerhalb des Parlaments, z. B. in Talkshows und in Interviews, profilieren als im Parlament selber.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat zweifellos den Kanzler gestärkt und den einzelnen Abgeordneten geschwächt. Deshalb wäre es nahe liegend, wenn sich Abgeordnete aller Fraktionen im nächsten Bundestag zusammentun, um ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages im Grundgesetz zu verankern. Dies empfehlen die Verfassungsrichter nicht, dies wäre aber die selbstbewusste Antwort von Parlamentariern, die ihre schleichende Entmachtung stoppen wollen. Dies würde sie nicht nur gegenüber einem Kanzler, der mit Neuwahlen droht, stärken, sondern auch gegenüber ihren Fraktions- und Parteiführungen. Ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages würde auch eine Neuauflage des unwürdigen Schauspiels einer inszenierten Vertrauensabstimmung verhindern. Wer heute Neuwahlen für den saubersten Weg aus der Krise hält muss auch dafür sorgen, dass der Weg zum Ziel ein gradliniger ist.