Kapitalismuskritik mit extra viel Schaum

Von Jacques Schuster · 10.05.2012
"Ist der Kapitalismus böse?" Diese Frage stellt sich ein Café in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms und bittet seine Gäste zu einem "philosophischen Abend mit anschließender Diskussion".
Seine Betreiber können zu Recht darauf hoffen, dass etliche der sonst zahlreichen Besucher ihren Porsche Cayenne in zweiter Spur parken werden, um bei einem Tässchen Tee für stolze vier Euro ihre Vorurteile bestätigt zu hören, ohne zu merken, wie anstößig diese Soiree in einer der teuersten Gegenden Berlins ist.

Kapitalismuskritik als Indiz der Dekadenz. - Sie ist nicht nur auf die Hauptstadt beschränkt. Zwischen Kiel und Konstanz grummelt es in der deutschen Seele. Sie fürchtet sich vor der sozialen Kälte, beklagt den Eiswind der Globalisierung und jammert, wie verrottet der Kapitalismus sei. Dass es ihr eigentlich gut geht - vielleicht so gut wie noch nie -, wen kümmert's? 48 Prozent der Deutschen sind heute der Ansicht, der Kapitalismus sei nicht mehr zeitgemäß. Die Gier der Banken und die Boni ihrer Banker hätten die Finanzkrise ausgelöst, in deren Folgen der Kapitalismus seine Maske verlor und uns heute mit der Fratze der Ausbeutung in Schrecken versetzt. Der Wirklichkeit hält das Grundgefühl allerdings nicht stand: Im Kern ist die Euro-Krise keine Banken-, sondern eine Staatsverschuldungskrise.

Der Kapitalismus samt Globalisierung hat die Menschheit nicht ärmer, sondern reicher gemacht. Lebten 1990 noch 43 Prozent der Weltbevölkerung von weniger als 1,25 Dollar am Tag, so sind es heute nur noch 22,4 Prozent. In Deutschland hat sich der Wohlstand ebenfalls vermehrt, in den neuen Bundesländern am deutlichsten. Dort hat sich das Bruttoinlandsprodukt in den vergangenen zwei Jahrzehnten verdreifacht.

Der Argwohn gegenüber der freien Marktwirtschaft ist dennoch groß. Wen wundert's, dass viele der Verlage diesem Grundgefühl Rechnung tragen? Seit drei, vier Jahren veröffentlichen sie Essays, die Kampfschriften gleichen. Darin liest man, dass man sich empören soll, erfährt, warum die angeblich entfesselte Marktwirtschaft scheitert und bekommt zu hören, das westliche Wirtschaftsgefüge sei am Ende. Die meisten der Autoren sind kluge Köpfe. Freilich enthüllt die Lektüre ihrer Beiträge, dass sich die Qualität ihrer Arbeiten in keiner Weise vom Bauchgefühl der Mehrheit unterscheidet. Es ist dasselbe Gemisch aus Halbwissen und Vorurteilen, das man wohl auch in dem besagten Berliner Café hören kann. Wenn es um Wirtschaft und Politik geht, werden Ausgewogenheit, kritische Reflexion und die Gabe zur Unterscheidung oft beiseite gedrängt. An ihre Stelle tritt die große Wortgaukelei: ein Miteinander von scheinbarem Tiefsinn und geistigem Betrug.

Glaube, Sehnsucht, Prophetie sind die Wesensmerkmale jener Beiträge und Bücher. - Fast ist man geneigt, Raymond Arons Studie "Opium für Intellektuelle" aus dem Bücherregal zu holen. Scharfsichtig zerpflückte der französische Philosoph 1954 die Sucht der Intellektuellen nach Weltanschauung. Kapitalismuskritik als Religionsersatz, die Hoffnung auf den Zusammenbruch der Marktwirtschaft als Grundlage einer Heilserwartung - das sind die Kennzeichen der westlichen Kapitalismuskritik.

Eines war jedoch bislang tabu. Wagte bisher kaum jemand nach den Verbrechen des 20. Jahrhunderts erneut die Flagge des Marxismus zu hissen, so scheint damit seit neuestem Schluss zu sein. Plötzlich werden Bücher veröffentlicht, die an altbekannte Propheten erinnern: Eine Biografie über Friedrich Engels ist erschienen, eine über Trotzki kommt in diesem Sommer heraus. Den roten Frühling läutet der britische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton ein, mit einem Essay: "Warum Marx recht hat". Das ist mehr als kühn angesichts der Erfahrungen, die wir im 20. Jahrhundert machen mussten.

Offenbar können viele Intellektuelle noch immer nicht ohne das Abrakadabra vom Klassenkampf leben. Sie diffamieren die Marktwirtschaft und die sie tragende Kräfte, ohne zu durchdenken, was an ihre Stelle treten soll. Am Ende haben sie nichts getan als von der Rückkehr des utopischen Sozialismus geträumt und letztlich die Demokratie verhöhnt. Darüber sollte es einen "philosophischen Abend" am Kudamm geben. Der Titel stünde bereits fest: die Kapitalismuskritik der selbstzufriedenen Rebellen.


Jacques Schuster, Historiker und Journalist, 1965 in Berlin geboren, studierte Geschichte und Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. Von 1994 bis 1997 war er regelmäßiger Autor der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der "Süddeutschen Zeitung" und des "Tagesspiegels". Von 1998 bis 2006 leitete Schuster das Ressort Außenpolitik bei der "Welt", jetzt ist er Verantwortlicher Redakteur der "Literarischen Welt". 1996 erschien sein Buch "Heinrich Albertz - Ein Mann, der mehrere Leben lebt".
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