Und der Neoliberalismus ist schuld daran
"Ändere die Welt!" fordert der Schweizer Soziologe und Globalisierungskritiker Jean Ziegler. Längst verfüge die Menschheit über das Wissen und die Ressourcen, um Hunger, Unterdrückung und Tyrannei zu beenden, meint er. Trotzdem nehme die Ungerechtigkeit weiter zu.
Deutschlandradio Kultur: Tacheles heute von der Leipziger Buchmesse. Zu Gast ist ein Mann, der hätte es sich eigentlich in seinem Leben gemütlich und bequem machen können. Er ist in der Schweiz in ein wohlhabendes Elternhaus hineingeboren worden. Der Vater war Gerichtspräsident. Die Familie lebte in einer Villa. Statt aber Anwalt zu werden und den Wohlstand der Schweiz zu genießen, wurde er Anzug tragender Revolutionär. Und auch mit fast 81 Jahren fordert er in seinem jüngsten Buch "Ändere die Welt". – Jean Ziegler, herzlich willkommen!
Jean Ziegler: Vielen Dank für die Einladung. Vielen Dank.
Deutschlandradio Kultur: Sie nennen Ihr Buch selbst eine "intellektuelle Biographie". Also beginnen wir auch biographisch. Ich habe gerade gesagt, Sie hätten es sich eigentlich gemütlich und bequem machen können. Sie haben das aber nicht getan, sondern sind als junger Mann direkt abgehauen aus dem Elternhaus und nach Paris ausgebüxt. Warum? Was war Ihnen zu eng?
Jean Ziegler: Also, erstens einmal danke für die Einladung, danke, dass Sie hier sind. Es ist eine große Ehre für mich, mit Ihnen zu diskutieren. Ich bin aufgewachsen im Berner Oberland in einer Stadt, die heißt Thun, eine Kleinstadt, kein Mensch kennt die natürlich. Meine Mutter war eine Bauerntochter, nicht kultiviert, nicht gebildet, aber mit großer Vitalität, großer Warmherzigkeit. Mein Vater ganz anders, Gerichtspräsident, Alpinist, Oberst der Schweizer Armee, stellen Sie sich vor. Aber sie haben sich sehr geliebt. Und meine Schwester und ich sind in einem liebenden Haushalt aufgewachsen.
Aber es gibt Schlüsselerlebnisse im Leben, die sieht man immer natürlich rückwärts gewendet.
Deutschlandradio Kultur: Was war das Ihre?
Jean Ziegler: Ein Schlüsselerlebnis sicher, ich bin da mit meinem glitzernden Velo als 14-, 13-Jähriger am Viehmarkt vorbei gefahren, also an den unteren Schlossmauern dieser mittelalterlichen Stadt, und habe in den kalten Wintermonaten diese Kinder gesehen in meinem Alter – bleich, unterernährt, mit Holzschuhen, zerlöcherten Hosen und so weitere. Während ihre Patrons, die Großbauern in den Restaurants Sauerkraut aßen, Wurst aßen, Bier tranken und so weiter.
Und ich bin nach Hause gekommen zu meinem Vater und hab gesagt, warum ist das so? Warum sind diese Kinder da so bleich und zittern in der Kälte? Und mein Vater hat geantwortet: Das ist die Ordnung der Welt. Gott hat das so gewollt. Es ist zwar schrecklich für diese Kinder, aber alles, was du tun kannst, ich sag's jetzt auf Schweizerdeutsch, mach die Sach, mache deine Sache, ändern kannst du nichts. Und wenn man das einem 13-Jährigen sagt, ...
Deutschlandradio Kultur: Da kommt der Widerspruchsgeist.
Jean Ziegler: Ja.
Deutschlandradio Kultur: Und dann sind Sie nach Paris...
Jean Ziegler: Ich habe mich sehr schlecht benommen. Da hab ich plötzlich mein ganzes Leben gesehen als reine Reproduktion, als ein Betongefängnis. Und ich bin weg, habe meinen Vater fürchterlich beschimpft. Glücklicherweise 40 Jahre später haben wir wieder zusammen geredet und da hat sich das ein wenig wettgemacht. Ich bin nach Paris, habe dort überlebt mehr oder weniger, auch dank dem Calvinismus, weil, ich bin ja schwer milieugeschädigt bis heute. Wenn ein Calvinist nicht arbeitet jeden Tag, dann fühlt er sich nicht gut.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben aber in Paris nicht nur gearbeitet, Sie haben auch diskutiert, zum Beispiel mit Jean-Paul Sartre. Wie haben Sie den denn kennengelernt?
Jean Ziegler: Der Jean-Paul Sartre, stellen Sie sich vor, im April 1956, da haben wir, die Jungen, für die algerische Befreiungsbewegung FLN Partei ergriffen. Und ich hatte einen Schweizer Pass. Den habe ich alle drei Monate verloren natürlich, habe einen neuen beantragt. Und der diente dann unter anderem dazu, FLN-Verantwortliche, Kommandanten usw. den Transport ins Ausland zu erlauben. Und da hat Sartre unsere Organisation geschützt mit seinem Namen. Und dann hab ich ihn kennengelernt.
Deutschlandradio Kultur: Wie war das? Er war schon ein bekannter Mann.
Jean Ziegler: Also, ich muss sagen, der Sartre war unglaublich. Der war der liebe Gott auf Erden. Aber der große Sartre war unglaublich warmherzig. Als unsere Organisation aufgelöst wurde, habe ich eine Stelle gefunden im Kongo bei der UNO, aber eine ganz kleine, ich war ein ganz kleiner Trottel. Aber als ich zum ersten Mal zurück kam aus dem Kongo, hat mir Sartre gesagt, ich solle zu ihm komme und ihm erzählen. Er war nie in Afrika, aber er hat das Vorwort geschrieben zu einem Buch, das auch ein Leuchtturm ist: "Die Verdammten dieser Erde" von Frantz Fanon. Und das 50-seitige Vorwort von Sartre, da hat er dran gearbeitet und hat zu mir gesagt, erzählen Sie mir von Zentralafrika, und hat zugehört, stundenlang. Und einmal, am dritten oder vierten Nachmittag, hat er gesagt, aber das müssen Sie aufschreiben.
Dann hab ich da ein Essay geschrieben. Und der wurde in Les Temps Modernes publiziert. Stellen Sie sich vor, ein kleiner Deutsch-Schweizer Trottel publiziert in den Temps Modernes. Und Simone de Beauvoir hat den korrigiert.
Deutschlandradio Kultur: Mit der waren Sie auch befreundet?
Jean Ziegler: Na, befreundet ist zu viel gesagt. Sie war eine schöne, aber kalte Frau, also wirklich kaltherzig und unbarmherzig.
Deutschlandradio Kultur: Simone de Beauvoir hat Ihnen ja auch Ihren Namen erst verpasst, wenn ich das richtig verstanden habe.
Jean Ziegler: Sie wissen alles.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind als Hans da hingekommen. Und Simone de Beauvoir hat sie kurzerhand umbenannt. Wieso haben Sie das denn mit sich machen lassen?
Jean Ziegler: Aha ja, die Simone de Beauvoir hat den Text gelesen, korrigiert, kaltherzig gestrichen. Und am Schluss stand Hans Ziegler. Da hat sie gesagt: Mais qu'est-ce que c'est ça? Ce ne est pas un nom.
Deutschlandradio Kultur: Das ist kein Name...
Jean Ziegler: Das ist kein Name. Was ist das? Und ich habe gesagt, auf Französisch heißt das Jean, Hans. Sie hat es durchgestrichen, Jean hingeschrieben. Und seitdem...
Aber, was wichtig ist, der Sartre hat dann das Telefon genommen, hat mit dem Gallimard telefoniert, also dem größten Verleger telefoniert. Und er hat gesagt, da gibt's einen jungen Autor, der kommt aus Zentralafrika zurück, hat viel gesehen. Den müssen Sie publizieren.
Und mein erstes Buch, "Die Soziologie des neuen Afrika", kam bei Gallimard heraus. Und das wurde übersetzt in verschiedene Sprachen.
Deutschlandradio Kultur: Also ein großer Erfolg. Und das hat angefangen auch mit dieser Freundschaft...
Jean Ziegler: ...nein, kein Erfolg...
Deutschlandradio Kultur: Ein Erfolg für Sie persönlich!
Jean Ziegler: Doch, für mich schon.
Deutschlandradio Kultur: Das meinte ich.
Jean Ziegler: Und die Bücher haben mich ja geschützt. Ich wurde ja dann in die Schweiz in einem anderen Zusammenhang verklagt. Ich habe das Buch geschrieben "Die Schweiz, das Gold und die Toten", gegen den helvetischen Banken-Banditismus, die Großbanken haben neun Prozesse gegen mich angestrengt. Ich wurde komplett ruiniert.
Deutschlandradio Kultur: Herr Ziegler, wie Sie es immer wieder schaffen, verklagt zu werden, dazu kommen wir noch.
Jean Ziegler: "Zu Unrecht verklagt" müssen Sie sagen.
Deutschlandradio Kultur: Na das sagen Sie ja jetzt schon...
Sie hatten eine Freundschaft mit Sartre, eine Bekanntschaft mit Simone de Beauvoir, sie waren Chauffeur von Che Guevara. Aber dann später als Diplomat und als Sie für die UNO arbeiteten hatten Sie auch Treffen und Bekanntschaften, na, die sind nicht so schön. Sie haben Diktatoren getroffen, Gaddafi. Es soll ein Foto von Ihnen geben in Umarmung mit Saddam Hussein. Heieiei, ist das ein ganz schöner Abstieg?
Jean Ziegler: Na, jetzt wird's kompliziert. Also: Ich war 30 Jahre lang Ordinarius, Professor der Soziologie in Genf und assoziierter Professor an der Sorbonne in Paris. Und dann im Jahr 2000 hat mich Kofi Annan ernannt als erster Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung in der UNO. Das war wahrscheinlich ein Irrtum, weil jeder glaubte, dass ist ein neutraler Schweizer, der stört niemanden.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben alle gestört.
Jean Ziegler: Ja, und dann habe ich ein wenig gestört. Und jetzt bin ich seit 2009 Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrats.
Und jetzt komme ich zurück: Dann sagen Sie, dieser Ziegler, da gibt's ja ein Foto, der drückt den Saddam Hussein, und den Gaddafi auch und so weiter. Da gibt es leider Fotos. Aber wenn man das Recht auf Nahrung durchsetzen will, dann geht man zum Beispiel nach Mesopotamien, wo unglaubliches Elend im Süden existiert. Oder wenn man in ein Land kommt, wie das von der Saddam-Hussein-Diktatur, da muss man zuerst in den Präsidentenpalast. Es gibt ein ganz genaues Protokoll. Und der Saddam Hussein hält da seine Rede. Und am Schluss geht er auf einen zu und umarmt einen. Und da steht sein Hoffotograf und macht ein Foto. Und ich gehe in mein Hotel und wasche meine Hände, weil ich dem Halunken die Hand hatte geben müssen. Aber das Foto besteht. Und da wurde ich fürchterlich angegriffen bis heute – von den Israelis, vom amerikanischen Botschafter: "Friend of Saddam Hussein, Friend of Gaddafi" – Nein! Entweder mache ich die Arbeit als Sonderberichterstatter oder ich mache sie nicht. Und wenn ich sie mache, muss ich mich dem Protokoll in diesen Ländern unterwerfen.
Deutschlandradio Kultur: Das ist Ihr Kampf auf einer sehr hohen Ebene...
Jean Ziegler: Es geht um Effizienz. Es geht, das will ich sagen, es geht um die Kinder, die zugrunde gehen.
Deutschlandradio Kultur: Um die geht es auf dieser hohen Ebene, auf der Ebene der Vereinten Nationen, wo Sie arbeiten. Um die verhungernden Kinder geht es aber auch, das erleben wir alle, wenn wir in Urlaub reisen. Wir kommen in ein Land, dort sind die Menschen bitterarm. Kinder kommen und betteln. Wir denken oft, eigentlich müssten wir jetzt, wir müssten jetzt eigentlich eine Patenschaft übernehmen. Wir müssten eigentlich hier diese Schule unterstützen. Wir könnten es eigentlich auch, aber wir tun es so selten.
Sie schildern auch Situationen, wo Sie einem Jungen ein Essen ausgeben, aber dann weiterreisen, denn Sie sind ja in der ganzen Aufgabenmühle drin. – Warum wissen wir so oft, was wir tun müssen, und tun es nicht, ganz alltäglich?
Jean Ziegler: Die Frage stelle ich mir auch. Zuerst einmal, was uns von den Opfern trennt, die jetzt sterben in diesem Moment, das ist der Zufall der Geburt, absolut nichts anderes. Die Weißen, die wir hier sind, sind 13 Prozent der Weltbevölkerung, 13 Prozent, sind nie mehr gewesen als 15 Prozent. Und die beherrschen den Planeten seit 500 Jahren. Und heute leben wir unter der Weltdiktatur der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals. Die 500 größten Konzerne der Welt beherrschen diesen Planeten. Sie haben eine Macht ohne jegliche Kontrolle, funktionieren nur nach Profitmaximalisierung. Und diese Weltdiktatur des Finanzkapitals diktiert ihren Willen auch der drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt, Deutschland zum Beispiel.
Aber es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Wenn wir dieses Gespräch führen würden in Honduras oder Peking, dann wäre das anders. Aber Deutschland ist ganz sicher die lebendigste Demokratie dieses Kontinentes, die dritte Wirtschaftsmacht der Welt. Wir können alles tun mit den Rechten, die uns das Grundgesetz gibt, oder mit den Rechten, die uns die Schweizer... – also, die Schweiz ist zu korrupt, aber das ist etwas anderes...
Deutschlandradio Kultur: ...sonst haben Sie gleich die nächste Klage am Hals.
Jean Ziegler: Ja, sonst habe ich schon wieder einen Prozess.
Aber wir reden hier von Deutschland. Das Grundgesetz gibt alle Waffen in die Hand, um diese mörderische Weltordnung zu brechen.
Ich gebe ein Beispiel, ein ganz einfaches Beispiel: Einer der schlimmsten Gründe für das tägliche Massaker des Hungers in der Welt, auf dieser Welt, die von Reichtum überquillt, ist die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel.
Deutschlandradio Kultur: Und da sagen Sie jetzt, hier könnten wir ja auf Basis unseres Grundgesetzes eingreifen...
Jean Ziegler: Ja, aber ich will noch...
Deutschlandradio Kultur: Herr Ziegler, unsere Zuhörer wollen das Buch auch noch lesen, wir können jetzt leider nicht das komplette Beispiel anhören.
Jean Ziegler: Ja, das sollen Sie tun! Sehen Sie, es ist ein sehr gutes Buch!
Deutschlandradio Kultur: Herr Ziegler, Sie sagen also, wir können das auf juristischer Ebene bekämpfen.
Jean Ziegler: Der Bundestag könnte morgen Früh das Börsengesetz revidieren, keine Börse funktioniert im luftfreien Raum, morgen Früh, ein Artikel mehr: "Es sind verboten: Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel, die da sind: Mais, Getreide und Reis". – Und Millionen Menschen in der Dritten Welt, wo die Mutter mit sehr, sehr wenig Geld die Nahrung kaufen würde, wären gerettet.
Zweites Beispiel: Der Herr Schäuble ist ja nicht vom Himmel gefallen. Er ist da durch Delegation des souveränen Volkes. Den könnten wir zwingen, im nächsten Juni, wenn er auf die Generalversammlung des Weltwährungsfonds nach Washington geht, wo Deutschland dank seiner Finanzmacht eine ganz wichtige Rolle spielt, wir könnten den deutschen Finanzminister zwingen, einmal nicht für die Gläubigerbanken in Frankfurt, New York, Zürich zu stimmen, sondern für die sterbenden Kinder, das heißt, für die Totalentschuldung der ärmsten Länder der Dritten Welt, damit die endlich in Landwirtschaft, in Schulen, in Krankenhäuser investieren könnten, anstatt erstickt zu werden von den Auslandsschulden.
Das können wir durch Mobilisation, durch Wahlen, durch öffentliche Demonstrationen, durch Generalstreik durchsetzen.
Deutschlandradio Kultur: Und das alles auf Basis von Verfassung und Demokratie...
Jean Ziegler: Des Grundgesetzes, wie es heute ist.
Deutschlandradio Kultur: ...auf Basis von Demokratie und Grundgesetz, Herr Ziegler, werden Sie aber auch ständig verklagt.
Jean Ziegler: Das stimmt, ja.
Deutschlandradio Kultur: Und Sie sagen, Sie sind ruiniert, weil Sie auch immer verlieren. Stimmt denn vielleicht gar nicht, was Sie so alles schreiben, wenn Sie immer verlieren?
Jean Ziegler: Also, Sie sind ein kritischer Mensch. Aber da haben Sie Recht. Als ich das Buch herausbrachte "Die Schweiz wäscht weißer", wo der schweizerische Banken-Banditismus im Detail beschrieben wird, also die massive Plünderung des deutschen, französischen, italienischen Fiskus durch die Wegelagerer der Züricher Bahnhofstraße, oder das Blutgeld aus der Dritten Welt, das fließt ja weiter. – Ich war kürzlich in Goma, also in Nord-Kivu, für die UNO. Das ist eine Stadt wie Leipzig, 500.000 Einwohner. Goma, am Fuße der Virunga-Berge. Dort gibt es kein funktionierendes Spital mehr. Wenn Sie eine Infektion haben, sterben Sie. Es gibt nichts.
Aber der Staatschef und seine Clique in Kinshasa, 3.000 km westlich, die haben Millionen und Dutzende von Millionen Euro gespeichert in den Alibaba-Kellern der Züricher Bahnhofstraße. Das Blutgeld kommt. Das habe ich beschrieben, dokumentiert, das ist kein Irrtum, das ist dokumentiert.
Deutschlandradio Kultur: Warum verlieren Sie dann immer die Prozesse?
Jean Ziegler: Erstens wurde meine parlamentarische Immunität aufgehoben, dann haben die Großbanken und ein paar andere Halunken in neun Prozessen gegen mich geklagt in fünf Ländern. Die Prozesse habe ich alle verloren. Die Theorie damals war: Das Bankgeheimnis schützt ja nur das ehrliche Geld. Steuerflucht aus Deutschland, das gibt es ja gar nicht. Der Ziegler ist bezahlt von Moskau. – Also, diese Sprüche kennen Sie.
Und ich wurde bedroht. Meine Familie hat wirklich sehr gelitten. Aber es gibt andere Dramen auf der Welt. Und heute haben sie die Hongkong-Singapur-Bank gesehen?
Deutschlandradio Kultur: Die HSBC.
Jean Ziegler: Der schulde ich 1,6 Millionen Schweizer Franken. Habe ich nicht, aber schulde ich ihnen immer noch.
Heute liegt offen: Die HSBC hat 180 Milliarden Euro von 100.000 Klienten, von denen viele Drogenbarone sind aus Kolumbien, aus Mexiko, Steuerbetrüger mit Urkundenfälschung aus Deutschland und so weiter, dann Mafiafürsten aus Bulgarien, aus der Ex-Sowjetunion und dann Terroristen, Financiers aus Saudi Arabien. Das ist jetzt offenbar. Heute würde ich jeden Prozess gewinnen, habe aber kein Geld, in Revision zu gehen. Aber keine Schweizer Strafbehörde hat auch nur eine einzige Strafuntersuchung gemacht. Auch nicht der Bundesanwalt, der diese Dokumente hat seit 2010. Das sind ja alles Offizialdelikte. Niemand hat auch nur eine einzige Strafuntersuchung gemacht.
Jean-Jacques Rousseau, der Uhrmachersohn, ein großartiger Philosoph aus Genf, hat gesagt: Der Reiche trägt das Gesetz in seiner Börse. Le riche tient la loi dans sa bourse. Also, Schweizer Bankenmogule, so kriminell sie sind, sind jenseits des Gesetzes.
Deutschlandradio Kultur: Da sind Sie ja in Ihrer Zuweisung, wer die Schuldigen sind, immer sehr drastisch. Finanzakteure sind Raubtiere, Lebensmittelspekulanten sind Tigerhaie, multinationale Konzerne sind kalte Monster.
Sie sind Soziologe. Soziologie lebt doch eigentlich auch von Differenzierung. – Warum hauen Sie immer so frontal drauf?
Jean Ziegler: Also, erstens bin ich ein Privilegierter unter Privilegierten. Ich bin weiß, habe immer zu Essen gehabt. Die Gehirnzellen sind entwickelt, ich habe einen Lehrstuhl gehabt mit akademischer Freiheit, Professoren brauchen ja nicht zu arbeiten ein ganzes Leben lang, keine Sozialkontrolle und so weiter, der schönste Beruf, den es gibt, ein Parlamentsmandant in Bern, große Verleger, die wirklich zu mir halten, auch wenn's schlimm wird. Also, ich bin ein Privilegierter unter Privilegierten.
Wenn ich nicht kämpfen würde, dann könnte ich mich ja nicht im Spiegel ansehen. Ich bin kein moralischer Mensch, aber so eine minimale Moral habe ich noch. Die geht zwar vielleicht einmal weg, aber die gibt's noch.
Also: Kämpfen wegen des unglaublichen Privilegs, das ich unverdienterweise habe. Sonst hätten Sie mich ja auch nicht eingeladen hier, oder?
Deutschlandradio Kultur: Das stimmt, für das Kämpfen sind Sie eingeladen.
Jean Ziegler: Soziologie ist eine Befreiungsbewegung. Oder ein Kampfsport, wie Pierre Bourdieu gesagt hat, un sport de combat. Jean-Paul Sartre hat uns gelehrt: Den Feind erkennen, den Feind bekämpfen.
Deutschlandradio Kultur: Das tun Sie seit vielen Jahrzehnten...
Jean Ziegler: Wir haben die intellektuellen Mittel, den Freiheitsraum, den institutionellen, um die Masken herunter zu reißen. Aber die muss man herunter reißen und nicht ein wenig daran Knibbeln. Verstehen Sie? Man muss wissen, auf welcher Seite man steht.
Deutschlandradio Kultur: Das wissen Sie sehr klar, Herr Ziegler.
Jean Ziegler: Das weiß jeder in sich selbst.
Deutschlandradio Kultur: Das weiß jeder, sagen Sie. Sie sind trotzdem einer, der wirklich heraus sticht durch dieses jahrzehntelange Engagement. Wenn ich Ihr Buch lese, gibt es gibt es eigentlich viele Gründe zu resignieren.
Auf wen stützen Sie, abseits von sich selbst, auf wen stützen Sie Ihre Hoffnung, dass sich vielleicht doch die Welt so ändert, wie Sie es fordern?
Jean Ziegler: Also, der Victor Hugo, der große französische Poet, Victor Hugo sagt: "Ich hasse alle Kirchen. Ich liebe die Menschen. Ich glaube an Gott." Das heißt, an die Unendlichkeit, die in uns ist. Genau so ist es. Ich glaube also wirklich an die progressive Menschwerdung des Menschen. Ich glaube daran, dass das Leben und die Geschichte einen Sinn haben. Jean Jaurès, der große Sozialist, französische Sozialist und Philosoph hat gesagt: "Der Weg ist gesäumt mit Leichen, aber er führt zur Gerechtigkeit." – Wann die kommt, wann die kannibalische Weltordnung zusammenstürzt, welche Welt dann entstehen wird, das ist das Mysterium der Geschichte.
Die Französische Revolution hat angefangen mit einem Handwerkeraufstand. Der Angriff auf die Bastille am 14. Juli 1789 hat die Welt verändert.
Deutschlandradio Kultur: Das sind blutige Beispiele, die Sie da nennen. Auch die Leichen liegen am Wegesrand, auch das ist blutig. Sie haben, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, Che Guevara damals auch ernsthaft angeboten, mit der Waffe in den Kampf zu kommen. Das hat er abgelehnt, weil er gewusst hat: So, ein Europäer, der kann gar nicht kämpfen. – Ist bewaffneter Kampf tatsächlich etwas, was Sie auch heute noch gutheißen würden?
Jean Ziegler: Der Aufstand des Gewissens ist sicher nahe. Immanuel Kant hat gesagt, die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir. Das Identitäts- und Solidaritätsbewusstsein ist konstitutiv, ist aber verschüttet bei den meisten Leuten durch die Entfremdung, durch die neoliberale Wahnidee. Es gibt keine menschliche Geschichte mehr. Marktkräfte, die unsichtbare Hand, entscheiden über das Schicksal der Menschen, der Länder, der Völker. Das ist die neoliberale Wahnidee, die sagt: Wirtschaft, politisches Geschehen gehorchen Naturgesetzen. – Reine Lüge, aber inthronisiert von den Menschen.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt immer Bewegungen, zum Beispiel die Occupy-Bewegung oder die 99-Prozent-Bewegung. Aber die verschwinden immer wieder.
Jean Ziegler: Nein, eben nicht!
Deutschlandradio Kultur: Auf wen hoffen Sie?
Jean Ziegler: Sie haben das Buch gelesen. Es gibt diese Bruderschaft der Nacht. Der Karl Marx hat gesagt: "Der Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören." Und Che Guevara hat gesagt: "Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse." Und diese Risse, diese Widerstandsfronten, die entstehen ja überall. Die Attac-Bewegung gegen das Finanzkapital, gegen das Spekulationskapital, Deutschland ist da sehr stark. Greenpeace, die Frauenbewegung, die Via Campesina, die gegen den Landraub in der Dritten Welt durch Konzerne kämpft, das sind 142 Millionen Pächter, Kleinbauern, Tagelöhner von Honduras bis Indonesien. Also, diese Bruderschaften, auch diese Vielzahl von sich schnell multiplizierenden Widerstandsfronten, neuen sozialen Bewegungen, das ist das neue historische Subjekt.
Und das ist die Hoffnung. Mein Buch ist kein Buch der Utopie. Es ist ein Handbuch des Kampfes, ein Beitrag, dieser neuen Zivilgesellschaft Analysen, Klarheit zu liefern.
Deutschlandradio Kultur: Sie nennen das eine weltweite, vernetzte Zivilgesellschaft. Aber ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass Sie sich da selber schreiben Mut herbeischreiben. Sehen Sie das wirklich erstarken? Ich sehe immer nur, dass diese Bewegungen aufflackern und dann wieder verschwinden.
Jean Ziegler: Kann sein. Also, Che Guevara, ich komme zurück, wenn Sie von Gewalt reden. Gewaltanwendung in Westeuropa? Reiner Blödsinn, also unproduktiv, reiner Blödsinn, weil die demokratischen Rechte bestehen. Es gibt soziale Ungleichheit. Es gibt Hartz-IV-Empfänger in Deutschland usw., aber die Bundesrepublik ist eine lebendige, sicher die lebendigste Demokratie dieses Kontinentes – mit Rechtsschutz, mit den Menschenrechten, mit den Grundrechten, mit funktionierender Justiz, mit Gewaltenteilung usw.
Che Guevara hat gesagt: Der Guerillero, also der Mann oder die Frau, die zum Gewehr greift, ist eigentlich nur ein bewaffneter Lehrer. Dort, wo es keinen Freiheitsraum gibt, um den anderen zu überzeugen im friedlichen demokratischen Dialog, da muss dieser Freiheitsraum geschaffen werden. Und dafür ist der Che gestorben.
Und ich war sein Chauffeur, zwölf Tage lang.
Deutschlandradio Kultur: Sie waren auf Kuba, da wurde der Kontakt hergestellt...
Jean Ziegler: Ja, vor zweihundert Jahren.
Deutschlandradio Kultur: ...und dann kam er für eine Konferenz zwölf Tage nach Genf.
Jean Ziegler: Ja, da war die erste Zuckerkonferenz in Genf, etwas sehr Wichtiges für Kuba damals. Das einzige Produkt war ja das Zuckerrohr. Und der Che Guevara war immer noch in der grünen Windjacke und das schwarze Barett mit dem Kommandantenstern. Und fünf Comandantes de la Revolucion waren in der Zwölf-Frauen- und-Mann-Frauen-Delegation. Und es gab kein kubanisches Konsulat, keine kubanische Botschaft in der Schweiz oder in Genf. Und da hat mich der einzige kubanische Botschafter, den es gab, der war in Prag damals, angerufen und hat gesagt: Du kennst ja den Che, also, kennen ist zu viel gesagt, du warst in Kuba dreimal mit der Brigade. Kannst du die Infrastruktur ein wenig organisieren. – Und da habe ich mit ein paar Freundinnen und Freunden ein Auto organisiert. Ich war zwölf Tage lang der persönliche Chauffeur mit meinem kleinen Morris für den Che.
Und am letzten Abend, die waren im Hotel Grand-Saconnex, hab ich alle meinen Mut zusammengenommen und habe gesagt: Comandante, ich will mit euch gehen. Morgen geht ihr auf den Zug nach Zürich, München, Prag, ich will mitkommen. Der war ein sehr kalter Mensch, hat gesagt: komm hier her, er ist zum Fenster gegangen. Und da waren die Leuchtreklamen der Banken, Genf hat ja so eine Seebucht. Und vom Grand-Saconnex hat man die Leuchtreklamen gesehen der Juweliere, der Bankiers usw. – Und er hat gesagt: Siehst du die Stadt da unten? Und ich hab gesagt, si comandante. – Das ist das Gehirn des Monsters. Da bist du geboren. Da musst du kämpfen. Er hat sich abgewendet und ist weg.
Und ich war natürlich tief getroffen, weil der mich für einen unnützen Kleinbürger gehalten hat. Wahrscheinlich hat er das ja auch. Und das war ich ja auch damals. Ich war ja Dienstverweigerer, keine militärische Ausbildung. Ich wäre irgendwo nach ein paar Monaten in Guatemala, Venezuela tot im Straßengraben gelegen.
Deutschlandradio Kultur: So gesehen hat er Ihnen das Leben gerettet.
Jean Ziegler: Er hat mir das Leben gerettet und er hat mir auch ein wenig eine Linie gegeben.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind also da nicht mit in den bewaffneten Kampf gezogen. Sie sagen auch, hier in unseren Breitengraden, wir haben ein Rechtssystem, wir müssen da anders vorgehen. Deshalb wüsste ich gerne von Ihnen zum Abschluss: Falls Sie jetzt den einen oder anderen davon überzeugt haben, dass er tatsächlich die Welt ändern will, so wie Sie es in Ihrem Buch schreiben, was kann derjenige dann jetzt gleich sofort tun, nicht auf die lange Bank geschoben, ich will irgendwie was ganz Großes machen, sondern jetzt konkret nach dieser Sendung. Was gibt es für eine Sache, die man tun kann?
Jean Ziegler: Nicht kann – die man tun muss! Ich sage es noch einmal. Das ist bei Professoren immer so. Die wiederholen sich ständig.
Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Jeder, der die Rechte hat, die wir haben, die Sie haben dank Grundgesetz, Verfassung, der ist total verantwortlich für alle Verbrechen, die jetzt in diesem Moment an anderen Menschen begangen werden von der international diktatorisch die Welt regierenden Finanzoligarchie zum Beispiel – verantwortlich!
Ich sage nur: Morgen Früh kann die Nahrungsmittelspekulation gebrochen werden. Morgen Früh kann das fürchterliche Verbrechen, das die Rückweisung am Südrand Europas der Flüchtlinge, der Hungerflüchtlinge verursacht, beendet werden. Tausende, letztes Jahr waren es 2.500, versinken im Meere, ertrinken im Meere, Frauen Männer und Kinder wie Sie und ich.
Das können wir morgen ändern!
Deutschlandradio Kultur: Das können unsere Abgeordneten morgen ändern. Haben Sie eine Sache, die jeder von uns einfach direkt heute machen kann?
Jean Ziegler: Wenn es die Abgeordneten nicht ändern, müssen die weg. Es gibt viele andere Möglichkeiten, erstens einmal Bewusstsein zu schaffen und in diesen zivilgesellschaftlichen, unglaublich aktiven und klugen Organisationen, die es gerade in Deutschland gibt, mitzuarbeiten. Es gibt jetzt das G7-Gipfeltreffen in Bayern im Juni. Und die Zivilgesellschaft in Deutschland mobilisiert so eine lehrreiche Gegendemonstration in München am 4. Juni. – Hingehen! Mitmachen! Sich engagieren dort, wo man ist!
Der Aufstand des Gewissens ist nahe. Wir stehen an der Schwelle zu einer total neuen Zeit. Und der Aufstand wird kommen.
Deutschlandradio Kultur: Jean Ziegler, Soziologe, Kritiker der globalisierten Wirtschaft, Gegner der Ungleichheit – vielen Dank, dass Sie bei uns waren.
Jean Ziegler: Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen
C. Bertelsmann Verlag, München 2015
288 Seiten, 19.99 Euro
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