Der Reiz des Scheiterns
Der Soziologe Richard Sennett hat Scheitern als ein Tabu der Moderne bezeichnet. Erfolg und Karriere sind heute mehr denn je gefragt. Doch ist das Scheitern nur Misslingen? Oder kann sich aus der scheinbaren Niederlage nicht zugleich etwas ungeahnt Neues entwickeln?
"Immer versucht.
Immer gescheitert.
Einerlei. Wieder versuchen.
Wieder scheitern.
Besser scheitern ..."
Immer gescheitert.
Einerlei. Wieder versuchen.
Wieder scheitern.
Besser scheitern ..."
Ein Mantra der Selbstoptimierung für ein besseres im schlechteren Leben. Das ewige Hamsterrad des absurden Theaters: Der irische Autor Samuel Beckett hat es in geflügelte Worte gefasst, das Scheitern in allen Lebenslagen.
Leistungsdenken und Gewinnmaximierung, Flexibilität und Effizienz. Selbstoptimierung, nicht scheitern. Im Beruf wie im Privatem, in Liebe und Leiden. Nein: Wieder versuchen, wieder Scheitern! Die Künste belehren uns eines Besseren. Versagen heißt nicht Verzagen! Der Fortschritt liegt im Fehler. Das Können steckt in der Kapitulation.
Welchen Reiz hat Scheitern in Musik, Theater und bildender Kunst? Kapitulation der Künste.
Wenn sich die Kunst dem Künstler unterwirft, wenn die Kreativität vor dem menschlichen Makel, der Unvollkommenheit kapituliert, scheitert dann der Künstler?
"Kapitulation, vom Französischen "capituler": nachgeben, aufgeben, sich unterwerfen."
Der Begriff "Scheitern" geht auf Scheiter, einer Pluralform zu "Scheit" zurück. Im 16. Jahrhundert existieren zunächst die Verben "zuscheitern" und "zerschmettern" mit der Bedeutung von "in Stücke brechen". Die verkürzte Form entstand in Anlehnung an Wendungen wie "zu Scheitern gehen", "in Trümmer zerbrechen". Heute steckt der Begriff "Scheitern" noch in Substantiven wie Holzscheit oder Scheiterhaufen.
In der griechischen Mythologie ist Hephaistos der Gott des Feuers und der Schmiedekunst. Er stellt den Dreizack des Poseidon her, den Bogen des Artemis, den Halsschmuck der Harmonia, Zepter und Donnerkeil für Zeus, Tor und Wohnung der Götter und auch die Gestalt der Pandora. Und: Er ist der einzige Gott mit einem Makel, da er durch einen Klumpfuß lahmt. Hephaistos ist klein und hässlich. Er ist der Gott der Künstler.
Ist nicht das Fehlerhafte das Echte
Ist nicht der Makel, das Fehlerhafte genau das Echte, das Lebendige im Schaffensprozess kreativer Menschen? Der Moment, wenn die Kunst vor dem Künstler kapituliert. Gehört Scheitern zum kreativen Schaffensprozess?
Susanne Witzgall: "Wobei man natürlich auch immer fragen muss: Was ist Scheitern überhaupt? Scheitere ich, wenn ich meinen Lebensunterhalt nicht als Künstler bestreiten kann? Oder scheitere ich, wenn ich nicht unter den ersten zehn bekanntesten Künstlern in Deutschland bin? Die Frage des Scheiterns ist ja immer auch, wie man sich die eigenen Ziele steckt. Was man selber erreichen möchte. Und daran misst sich natürlich auch, wie man selber seinen Erfolg oder Misserfolg beurteilt."
Susanne Witzgall studierte Kunstgeschichte, Theaterwissenschaften, Psychologie und Kunstpädagogik. Lange Jahre arbeitet sie als freie Kuratorin und ist Autorin zahlreicher Bücher und Aufsätze zur zeitgenössischen Kunst, zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. Dabei beschäftigt sie sich auch mit Brüchen in der künstlerischen Arbeit.
Susanne Witzgall: "Dieses Scheitern, dieses Herumirren, diese Abklopfen von verschiedenen Möglichkeiten, auch das Spüren des Widerstands von Materialien, bestimmten Konzepten, und so weiter - also diese Gegenwehr der Dinge, mit denen man es zu tun hat."
Am Anfang einer künstlerischen Kreation ist das die größte anzunehmende Verunsicherung, die Frage aller Fragen:
Susanne Witzgall: "Reicht mein Glaube an das Künstlersein aus, um dieses Scheitern in Kauf zu nehmen, das auf mich wartet, um durchzuhalten, um meine Ideen weiter zu verfolgen? Das hängt wirklich von der Persönlichkeit des einzelnen ab. Ich denke, dass viele junge Künstler das ab einen bestimmten Punkt gar nicht mehr in Frage stellen. Für die ist das eine existentielle Entscheidung und die verfolgen die dann intensiv. Und klar, kann man dann trotzdem irgendwie scheitern. Was teilweise wirklich dramatisch enden kann. Also wirklich auch existentiell dramatisch enden kann, muss man auch sagen."
Bedeutet scheitern nur misslingen?
Kreativ aber erfolglos - die brotlose Kunst, die gescheiterte Künstler-Existenz. Sofort haben wir ein Ölgemälde aus der Mitte des 19. Jahrhunderts vor Augen: Carl Spitzweg "Der arme Poet". Ein kränkelnder Schriftsteller in seiner verwahrlosten Dachstube, über dessen Bett ein Regenschirm gespannt ist. Einsam und entrückt. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat das Scheitern einmal als das große Tabu der Moderne bezeichnet. Denn Erfolg und Karriere, Leistung und Gewinnmaximierung sind in unserer Gesellschaft gefragt. Bedeutet scheitern nur misslingen?
Michaela Meise, 1976 in Hanau geboren, studierte an der Städelschule Frankfurt am Main und an der Kunsthochschule Kassel. Ihre Werke sind in zahlreichen internationalen Ausstellungen zu sehen. Sie ist kaum auf ein künstlerisches Medium festzulegen. Eher ist ihre Arbeitsweise ein collagenartiges Vorgehen und ein minimalistischer Umgang mit den verwendeten Materialien. Ihr Spektrum reicht von Zeichnung und Skulptur über Performance bis hin zur Musik. 2011 hat Michaela Meise das Album "Preis den Todesüberwinder" veröffentlicht - Kirchenlieder aus dem 16. bis 19. Jahrhundert.
Eine lose Interpretation mit klackerndem Akkordeon. Schräge Melodie und schüttere Harmonie - sie sind nicht Teufelswerk, vielmehr göttliche Komödie. Denn ihr, die ihr zweifelt, ihr werdet im Fehler den Fortschritt, im Scheitern die Schönheit erkennen. Die Präzision wird in entrückten Momenten zur Farce.
Der DJ, Musiker und Schriftsteller Thomas Meinecke schätzt Fehler in der Musik auf beiden Seiten - als Hörer und Popkritiker, aber auch als Musiker in seinem legendären Band-Kollektiv F.S.K.:
"Wenn man sich in der Musik plötzlich vergaloppiert, dann ist das oft gerade in der Wiederholung ein unglaublich schönes Motiv. Ich finde das in der Jazzmusik am augenfälligsten. Wenn man sich ein längeres Solo anhört von irgendeinem Bläser, Pianisten - Bläser vielleicht noch mehr als Pianisten - da kommt ständig mal ein Ton, der nicht gemeint war vor, und man erschrickt kurz mit, und in der Regel wird der dann zum Motiv ausgebaut."
Was Jazz ermöglicht, ist in der Klassik tabu: Perfektion und Virtuosität sind das Maß der Dinge. Die Musikwissenschaftlerin Christiane Tewinkel von der Universität der Künste Berlin bedauert das:
"Es gibt Künstler wie Anne-Sophie Mutter, die so wahnsinnig perfekt sind, einen so satten, glänzenden Ton haben, dass viele sagen: 'Das ist mir einfach zu doll'. Das ist ein solches Übermaß des Satten und Perfekten. Es hat nicht immer etwas sehr Attraktives, wenn jemand etwas sehr, sehr gut kann."
Perfektion wird bewundert - und sie irritiert. So wie umgekehrt ein falscher Ton irritieren - und inspirieren kann. Manfred Eicher, Betreiber des 1969 gegründeten Musiklabels ECM, tut sich schwer, im musikalischen Fehler auch eine Ästhetik zu erkennen. Die Produktionen auf ECM zeichnen sich durch eine besonders sorgfältige Aufnahmetechnik aus, der Sound hat ein sehr klares und transparentes Klangbild - getreu dem Motto "The most beautiful sound next to silence".
Ästhetik, von altgriechisch aísthēsis, "Wahrnehmung", "Empfindung", war bis zum 19. Jahrhundert vor allem die Lehre von der wahrnehmbaren Schönheit, von den Gesetzmäßigkeiten und der Harmonie in Natur und Kunst. Doch Ästhetik bedeutet wörtlich "Lehre von der Wahrnehmung". Ästhetisch ist demnach alles, was unsere Sinne bewegt, wenn wir es betrachten: Schönes, Hässliches, Angenehmes und Unangenehmes.
Das Scheitern der Künste
Eine Ästhetik des Scheiterns. Gibt es so etwas? Nach der wörtlichen Definition des Begriffs schon. Was unsere Sinne bewegt, ist also ästhetisch: Schönes und Hässliches, Angenehmes und Unangenehmes. Demnach auch das Fehlerhafte im kreativen Schaffen, das Scheitern der Künste - auch auf der ganz großen Bühne, dem Theater.
Matthias Lilienthal: "Die Tradition, aus der ich komme, die ja da heißt: Marthaler und Schlingensief und Castorf. Da war ja immer der Fehler das eigentlich Begehrte. Das ist ja der Versuch, das geölte Abspulen des Theaterbetriebes so weit wie möglich zu verhindern, und eigentlich zu versuchen, Verzögerungen, Pausen oder Störungen im Theaterbetrieb zum Thema zu machen. So wie die Schlingensief`sche Ethik "Scheitern als Chance", die Störung als eigentlich theatrales Ereignis. So jemand wie Schlingesief hat dann versucht, eher die Unfertigkeiten oder das Versagen in den Mittelpunkt zu stellen."
Ende der 1980er-Jahre war Matthias Lilienthal Regieassistent am Burgtheater Wien, in den 1990er-Jahren Dramaturg unter Frank Castorf an der Volksbühne Berlin, bevor er dann als künstlerischer Leiter am HAU mit einer weltoffenen Form des Theaters auf sich aufmerksam machte. Seit der Spielzeit 2015/16 ist Lilienthal Intendant an den Münchner Kammerspielen und etabliert in der bayerischen Landeshauptstadt ein Theater als Ort für grenzenlose Begegnungen - ein Diskurs-Theater, ein Schauspiel der Intervention. Lilienthal bekennt:
"Für mich wäre eine Produktion gescheitert, wenn sie perfekt alle ästhetischen Erwartungen bedient, keinerlei Reibungen hat und allen gefällt. Dann bin ich unglücklich."
Das Stück "Wut" von Elfriede Jelinek unter der Regie von Nicolas Stemann ist ein vierstündiges Holterdiepolter des Regietheaters. Im Vordergrund steht nicht die perfekte Darstellerkunst, sondern Identifikation und Interpretation und das Intonieren choraler Textgewalt.
Gerät ein Schauspieler aus dem Tritt, verhaspelt er sich, verliert er den Faden, dann tut das dem Stück keinen Abbruch. Im Gegenteil, die Darsteller arbeiten produktiv mit Fehlern auf der Bühne. Für Benjamin von Blomberg, dem Chefdramaturgen an den Münchner Kammerspielen, übt gerade das nicht präzise Spiel auf die Zuschauer einen enormen Reiz aus:
"Ich glaube, dass Zuschauer immer das Gefühl haben, intensiv teilzunehmen an einem Stück, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas passiert, was gerade eine Gefährdung produziert. Das ist jetzt ein großes Wort, weil mit Gefährdung meine ich nicht unbedingt, dass man das Gefühl hat, ein Scheinwerfer könnte gleich zu Boden fallen und hoffentlich schafft der Schauspieler es rechtzeitig wegzuspringen. Aber zum Beispiel Texthänger produzieren oft einen unglaublichen Stuhlkantensitz bei den Menschen, weil sie sich in dem Moment fragen, wie es wohl weiter gehen wird. Wann findet er wohl den Text wieder? Wie wird jetzt die Souffleuse helfen? Was bedeutet dieser Moment der Irritation für das figurative Spiel von den beiden Akteuren? Können die diese Unsicherheit nutzen für die Psychologie? Diese Momente der Gefährdung und des vermeintlichen Scheiterns und das Aus-dem-Tritt-geraten, das produziert immer eine Art von besonderer Gegenwart."
Das Theater im Theater
Der Vorhang fällt, das Publikum verlässt den Saal, das Drama nimmt seinen Lauf: Das Theater, das sich zum Mangel an Perfektion bekennt, verkehrt die Maßstäbe, die allenthalben unser Leben bestimmen. Und lenkt den Blick auf die Frage: Mutiert der Mensch in einer Null-Fehler-Kultur nicht selbst zum größten anzunehmenden Unfall? Zeigen uns Künstler nicht durch ihre individuelle Umgangsweise mit der Frustration in der Kultur-Produktion wie wir dem Perfektionswahn entkommen? Begegnen wir durch das Scheitern in den Künsten nicht auch einer eigentümlichen Schönheit der Kreativität? Eine zentrale Rolle im Theater spielt die Souffleuse.
"Ich bin Simone Rehberg, ich bin Souffleuse am Residenztheater. In der Vorstellung bin ich das Netz unterm Trapez, wenn irgendwas passiert. Es mag keiner rein fallen. Es möchte kaum auch jemand die Souffleuse brauchen. Aber wenn es passiert und wenn ein schwarzes Loch im Kopf ist, bin ich da."
Münchner Residenztheater, "Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk", inszeniert von Frank Castorf. Simone Rehberg begleitet das Stück als Souffleuse. Mit der weiblichen Hauptdarstellerinnen Bibiana Beklau sitzt sie vor der Vorstellung in der Kantine.
"Es liegt auch am Schauspieler. Von dem einen weiß ich, der möchte es um Gottes Willen nicht, dass die Leute erfahren, dass er mich brauchte. Und der andere sieht das locker und sagt: Konnte ich halt den Text kurz nicht, dann hast du mir geholfen, Theater ist live."
Autor: "Und wie verhält es sich bei Bibiana Beglau?"
"Die ist lässig! Na ja, nein, stimmt auch nicht. In machen Produktionen ist es schon so, dass sie erstens eigentlich nicht hängt und zweitens, es dann auch hassen würde, wenn es dann passiert."
"Ich bin Bibiana Beglau und bin hier am Residenztheater als Knallcharge engagiert."
Autor: "Scheitern auf der Bühne, ist das überhaupt für Dich ein Thema?"
"Wenn du das ausklammerst, gerade vom Live-Akt, dann kommst du in eine große Verlegenheit des Saubermanns oder das, was unsere Gesellschaft ist, nämlich nicht die Dinge richtig gut zu machen, aber keine Fehler zu machen. Und keine Fehler ist der Fehler."
"Tatsächlich ist es so, dass wir auch Unsicherheiten produzieren - absichtlich. Verunsicherungen, oder Dinge ein bisschen anders machen. Bei Castorf ist es besonders toll, da schmeißt du den anderen von der Rolle in der Begehrlichkeit, mehr zu bekommen. Also einen Fehler auch anzulegen, weil Fehler implizieren das Echte, weil es die direkte Konfrontation und die direkte Hingabe erfordert. Wenn du nur der Sauberkünstler bist, einen Spagat machst oder schnell sprichst, was immer gerne in München goutiert wird -kannst du machen, da klatscht das Publikum - aber das Echte, die Leidenschaft ist anders."
Simone Rehberg: "Wenn der Fehler wiederholt wird bei der nächsten Vorstellung, dann wird es ein Spiel zwischen uns. Das ist dann auch noch mal lustig."
Autor: "Simone, Du kennst Bibiana Beglau mittlerweile so gut, dass du ganz genau weißt: jetzt bin ich gefragt, oder jetzt lasse ich sie mal."
"Sie führt mich aber auch aufs Glatteis. Es ist tatsächlich auch ab und zu so, dass sie in manchen Produktionen absichtlich so tut, als ob sie hängt und ich stehe in hab Acht und reagiere. Dann denke ich, Du blöde ... Du hast gar nicht gehangen, und ärgere mich dann, dass ich darauf rein gefallen bin."
Individuelle Note des Künstlers
Unstimmigkeiten und Interpretationsfehler sind zur richtigen Zeit und an der richtigen Stelle stilbildend und werden zur Eigenart, zur individuellen Note des Künstlers. Ein Balanceakt: Die Präzision auf der einen, der Fehler auf der anderen Seite. Der Reiz des Scheiterns liegt irgendwo dazwischen.
Simone Rehberg: "Ich sehe nicht gerne Leute scheitern, die Angst davor haben zu scheitern. Also Schauspieler, die mit sich selbst halbwegs im Reinen sind und das akzeptieren, dass das passieren kann, bei denen ist es ein leichteres Nehmen und Geben. Aber wenn ich merke: Der Schauspieler ärgert sich jetzt wochenlang tot, dass Zuschauer mitbekommen haben, dass ich ihm helfen musste, dann mag ich es gar nicht."
"Die Kunst der Aufführung ist auch zum Teil die Fähigkeit, auf der Bühne auf kleine Unebenheiten des Spiels so einzugehen, dass es dem Publikum nicht auffällt, und dass ich mich selbst nicht torpediere, indem ich mich nur damit beschäftige, dass vermeintlich etwas suboptimal war."
Für Adina Mornell, Professorin für Instrumental- und Gesangspädagogik an der Musikhochschule München, entsteht mit Fehlern in den Künsten ein neuer Bedeutungszusammenhang. Das mag mal verstörend, mal entrückend und mal richtig bezaubernd sein. Immer aber ist es eine Entdeckungsreise – für Kulturschaffende und für Konsumenten. Darin liegt ein eigener Reiz der Kunst.
Adina Mornell verbindet ihre langjährige Erfahrung als internationale Konzertpianistin mit ihrer akademischen Ausbildung in Psychologie, Musikwissenschaft und Pädagogik. Neben ihren CD-Veröffentlichungen als Solistin hat sie auch als Autorin eines der wenigen wissenschaftlichen Bücher zum Thema Aufführungsängste geschrieben: "Lampenfieber und Angst bei ausübenden Musikern".
Adina Mornell: "In der Tat ist Lampenfieber - also dieses Fieber haben unter den Lampen - etwas, was geradezu die Voraussetzung ist für eine Spitzenleistung. Das heißt, erst in dem Moment, wo ich mich positiv aufrege - man nennt das auch die Aktivierung - habe ich die Chance, wirklich eine ungewöhnliche und hervorragende Leistung zu erbringen. Und dieses Fiebern brauche ich auf der Bühne. Was Menschen verwechseln, ist Aufführungsangst. Es gibt eine Angst, die lähmt. Aber in der Regel ist das nur bei Menschen der Fall, die sich vorher nicht mit der Angst auseinandergesetzt haben."
Besuch bei Yvonne Cornelius in Köln. Sie nennt sich als Musikerin Niobe. Fruchtbarkeit und Trauer schreibt man dieser Göttin aus der griechischen Mythologie zu. Für sie selbst ist der Künstlername Niobe mehr Sinnbild für Fantasie und Melancholie. So vertont sie in ihrer Musik Geschichten voller Befindlichkeiten: mal beschwingt, mal betrübt.
"Ich probe gerade mit ein paar neuen Musikern mein Konzert. Da kommen dann von meinen alten Platten auch Stücke vor. Dieses: 'Turn Around In The Sun, Ever More Like…' Manchmal vergesse ich meine Texte, wenn ich sie schon lange nicht mehr gesungen haben."
Benjamin von Blomberg: "Man ringt um die Gegenwart, und die Gegenwart ist nicht einfach so da wie in jedem Gespräch und jeder Begegnung. Das ist die Unsicherheit, die das Publikum wiederum extrem aufregend findet und, glaube ich, eine besondere Aura produziert."
Die Emanzipation des Fehlers
Für Benjamin von Blomberg, dem Chefdramaturgen der Münchner Kammerspiele, produziert das Scheitern eine Art "besondere Gegenwart". Es ist die Emanzipation des Fehlers vom Streben nach Präzision, die emanzipatorische Kapitulation der Künste:
"Es gibt einen Anteil und der heißt Aura, an einer Arbeit. Und der ist schwer zu planen. Das ist dann der Bereich, wo dann die Kriterien richtig oder falsch gar nicht helfen."
Die "besondere Gegenwart", die Unschärfen in der Kreativität, der menschliche Makel - all das: Kapitulation der Künste.
Benjamin von Blomberg: "Es ist eigentlich das Schönste, was es gibt - sowohl der Fehler als auch das Scheitern. Weil es eigentlich alle daran erinnert, dass der Mensch ein ziemlich verletzbares Wesen ist - und das in einer Welt, die die ganze Zeit performt, als hätte sie die Dinge im Griff."
(md)
(Wiederholung vom 31.08.2016)
Hier gibt es das vollständige Manuskript als PDF-Version