Eine jüdische Minderheit, vom Aussterben bedroht
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Knapp 50.000 Angehörige hat die Religionsgemeinschaft der Karäer weltweit. In Litauen ist diese jüdisch-tatarische Minderheit weitgehend in der Mehrheitsgesellschaft aufgegangen. Karäische Sprache, Kultur und Religion scheinen keine Zukunft mehr zu haben.
Trakai liegt in einer Wald- und Seenlandschaft dreißig Kilometer westlich von Vilnius. Ein Holzsteg trennt die kleine Stadt von der spätmittelalterlichen Wasserburg, einst die Residenz des Großfürsten Vytautas, der Litauen nach außen und innen stärkte und daher den Beinamen "der Große" erhielt. Auf der Suche nach Grenzsoldaten, Handwerkern und kundigen Diplomaten holte Vytautas Ende des 14. Jahrhunderts einige hundert Familien aus der Glaubensgemeinschaft der Karäer nach Trakai. Einige ihrer Nachfahren leben noch heute hier. Gemeindevorsteher Jurijus Špakovskis erklärt:
"Es gibt kein Institut, an dem man karäische Theologie studieren könnte. Die Gemeinde hat allerdings seit alten Zeiten eine Schule, und religiöses Wissen wird in freier Form weitergegeben, von einer Generation an die nächste. Nach unserem Kalender planen wir unsere Gottesdienste, zu Feiertagen und zu bedeutenden Anlässen, und es gibt Hochzeiten, Beerdigungen und so weiter."
Jurijus Špakovskis führt uns in die Kenesa, ein gelb verputztes Gotteshaus im alten Zentrum von Trakai. Der mächtige Altar steht an der Südwand. Rechts und links hängen Tafeln mit den zehn Geboten auf Karaimisch.
Religionsgründung aus Protest gegen den Talmud
Špakovskis legt einen Umhang an, setzt sich eine Kappe auf und spricht ein Gebet: Gott soll Fürsorge tragen für die Hiesigen, für die Reisenden, für die, die sich in Nöten befinden…
"Unsere ethische Grundlage sind die zehn Gebote in karaimischer Sprache" erklärt er. "Wir beziehen uns nur auf das Alte Testament. Andere Dokumente oder Kommentare, egal ob mündlich oder schriftlich, sind unzulässig. Dadurch unterscheiden wir uns von allen anderen monotheistischen Glaubensrichtungen."
Für die Karäer sind Sprache und Glauben eng verflochten. Ihre Religion entstand im 8. Jahrhundert nach Christus als Protestbewegung innerhalb des Judentums gegen die Auslegung der Tora im Talmud. Das religiöse Zentrum lag zunächst in Bagdad. Dort übernahmen die Karäer auch islamische Elemente wie das Opferfest Später verlagerte sich ihr Zentrum nach Jerusalem. Missionare verbreiteten den Glauben unter den turksprachigen Bewohnern auf der Krim, von wo einige dann von Großfürst Vytautas nach Litauen eingeladen wurden. Bis zu 100 Gläubige kämen heute noch in die Kenesa, sagt Jurijus Špakovskis und verriegelt das Tor von außen.
Gegenüber am Seeufer betreibt Jurijus zusammen mit seiner Frau Lena ein Gartenrestaurant. Ihre Spezialität sind Kybynlar, Teigtaschen, gefüllt mit Fleisch vom Lamm und Rind. Regeln für koschere Speisen werden dabei nicht beachtet. Die Geschichte der Karäer ist lang und widerspruchsvoll. Die Vilniusser Historikerin Dovilė Troskovaitė hat sie erforscht.
"Solange sich die Karäer als religiöse Gemeinschaft innerhalb des Judentums verstanden, bezogen sie sich auf die Thora und versuchten diese selbst zu interpretieren und ignorierten den Talmud als Textbasis", sagt sie. "In praktischen Fragen, etwa bei Speisevorschriften oder im Verhältnis zum Christentum, hörten sie dann aber doch auf Rabbiner und nutzten den Talmud als Leitfaden, wenn auch nicht als verbindliche heilige Schrift."
In der Mehrheitsgesellschaft aufgegangen
Im 19. Jahrhundert stieg der Säkularisierungsdruck für die Karäer von Trakai. Das in Glaubensfragen vergleichsweise tolerante Vielvölkerreich der polnisch-litauischen Union war inzwischen von der europäischen Landkarte verschwunden. Litauen gehörte zum russischen Zarenreich. Die Folgen für die Karäer schildert Dovilė Troskovaitė so:
"Damals begann man sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, auch um die im Zarenreich üblichen Beschränkungen der Rechte von Juden zu umgehen – also Gettobildung oder eine doppelte Besteuerung. Die Karäer begannen, sich immer stärker von jüdischen Traditionen zu verabschieden. Man hielt an Festen und Gottesdiensten fest, aber das Alltagsleben wurde säkularisiert. In der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hörten die Karäer dann auch auf, Hebräisch zu lernen, wodurch sie die Beziehung zu den Texten der Tora verloren."
Diese Säkularisierung habe zu einem Vakuum geführt, meint Dovilė Troskovaitė. Zwar übe der litauische Staat – anders als zuvor die Sowjetunion – keinen Anpassungsdruck aus. Dennoch habe die Karäer-Gemeinde kaum noch Nachwuchs. Dovilė Trokovaitė befürchtet sogar, sie könne aussterben:
"Ich finde es gut, wenn sich die Karäer darum bemühen, ihre Identität zu bewahren. Aber das demografische Problem besteht fort. Wenn sich da nichts ändert oder etwas Unvorhergesehenes passiert, zum Beispiel Karäer aus anderen Ländern nach Litauen zuwandern, wird es diese Gemeinschaft in hundert Jahren nicht mehr geben."
"Der kleine Prinz" auf Karaimisch
Eines der wichtigen Bindeglieder für den Zusammenhalt der litauischen Karäer ist heute die Sprache. Karaimisch ist eine Turksprache mit späteren Entlehnungen aus dem Litauischen, Polnischen und Russischen.
"Karaimisch ist meine Muttersprache. Wir haben zuhause nur Karaimisch gesprochen. Wir sprachen auch Polnisch, weil meine Eltern vor dem Zweiten Weltkrieg in Vilnius und in Trakai Schulen mit polnischer Unterrichtssprache abgeschlossen haben. Später, als Vilnius zu Litauen kam, sprachen wir auch Litauisch und manchmal auch Russisch", erinnert sich Halina Kobeckaitė, Jahrgang 1939, pensionierte Diplomatin, Wissenschaftlerin und Übersetzerin.
Sie ist in Trakai geboren und lebt seit langem in Vilnius. Gemeinsam mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann, dem Karäer Mykolas Firkovičius, hat sie sich um die Weitergabe der karaimischen Sprache an die nachfolgende Generation bemüht. Unlängst hat sie mit ihrer Tochter auch den Klassiker der Kinderliteratur "Der kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry ins Karaimische übersetzt.
Halina Kobeckaitė legt immer mehr Bände in karaimischer Sprache auf ihren Wohnzimmertisch.
"Ich weiß nicht, ob Sie das hier kennen", sagt sie. "Mein Mann hat diese Gebetbücher erstellt, für die Kenesa, aber er hat auch auch rituelle Gebete zu jedem Anlass verfasst: zu Geburt, Hochzeit, Beerdigung, Erntedank. Aus diesen Büchern können wir unsere religiösen Bräuche lernen. Denn das Wissen, das früher mündlich in den Familien tradiert wurde, verschwindet allmählich, wenn es kaum noch Menschen gibt, die sich daran erinnern können, wie es einmal war."
Um das zu verhindern, veranstaltet die Gemeinde der litauischen Karäer unter anderem seit eineinhalb Jahrzehnten eine Sommerschule für ihre Sprache und Kultur. Das letzte Wort über die Zukunft ihrer Gemeinschaft ist also noch nicht gesprochen.