"Wir haben 1991 alle für selbstverständlich gehalten, dass Einheiten, die die Sowjets früher geschaffen haben, erhalten geblieben sind. Dass Unionsrepubliken wie Kasachstan und Usbekistan sich zu eigenständigen Staaten erklärt haben und dass in den Ländern auch die untergeordneten Sowjetrepubliken erhalten blieben. Das hat auch eine Weile geklappt, aber offensichtlich – und das macht mir Sorgen – ist viel mehr gleichzeitig am Brodeln und wird infrage gestellt als früher. Im Prinzip muss man sich jetzt viel mehr Sorgen um Zentralasien machen als zu Anfang, habe ich den Eindruck."
Beate Eschment, Expertin für Zentralasien am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin – zu hören am Ende dieses Weltzeit-Podcasts.
Karakalpakstan in Usbekistan
Anfang Juli erschütterten brutale Unruhen die Region Karakalpakstan in Usbekistan. © picture alliance / AA / Bahtiyar Abdulkerimov
Eine Minderheit begehrt auf
22:41 Minuten
Eine Verfassungsänderung in Usbekistan sollte den Einwohnern der autonomen Republik Karakalpakstan ihre Selbstbestimmung nehmen. Das führte zu blutigen Ausschreitungen. Es gibt eine Untersuchungskommission, doch manche zweifeln an ihrer Unabhängigkeit.
Durch Sicherheitskräfte abgefeuerte Rauchgasbomben und Gummigeschosse, tödliche Übergriffe seitens Demonstranten auf Polizisten. Videos im Internet zeigen noch die Brutalität der Unruhen, die Anfang Juli Usbekistan erschütterten. Mehrere Tausend Menschen waren in Nukus, der Hauptstadt der autonomen Region Karakalpakstan im Westen Usbekistans, auf die Straße gegangen, lieferten sich über drei Tage hinweg Kämpfe mit Polizisten und Soldaten. Die offizielle Bilanz der Unruhen in Karakalpakstan: 21 Tote, Dutzende Verletzte und über 500 Verhaftete.
Azimbay Ataniyazov, ein in Nukus lebender Menschenrechtler, erinnert sich, wie er die Tage Anfang Juli erlebte. Aus dem Außenbezirk von Nukus, wo er lebt, versuchte er, zum Zentrum der Proteste rund um den Basar zu gelangen.
„Ich habe versucht, da hinzukommen, aber konnte nicht. Die Straßen waren abgesperrt durch Reihen von Soldaten. Als ich angefangen habe, die Protestierenden mit dem Handy zu filmen, haben die Soldaten mich gezwungen, die Videos zu löschen, das Handy haben sie mir aber gelassen. Das war am Vormittag des 2. Juli. Weil es keinen Sinn machte zu bleiben, bin ich wieder nach Hause. Am Abend habe ich dann hier bei uns Lärm gehört und bin hin. Ich habe gerade noch gesehen, wie Demonstranten Soldaten verprügelten, die dann wegrannten. Da lagen zwei Paar Soldatenschuhe herum, die habe ich auch gefilmt.“
Verfassungsänderung bedrohte Unabhängigkeit
Auslöser der Proteste in Karakalpakstan war eine geplante Verfassungsänderung. Demnach sollte Karakalpakstan, das offiziell eine autonome Republik innerhalb Usbekistans ist, das Recht abgesprochen werden, sich per Referendum von Usbekistan abspalten zu können. Als Usbekistan 1991 nach dem Fall der Sowjetunion selbst unabhängig wurde, war dieses Recht der Region Karakalpakstan zugesprochen worden – allerdings nur für 20 Jahre, die längst abgelaufen sind. Bisher hatte niemand die Frage einer möglichen Unabhängigkeit Karakalpakstans angetastet und man behielt die veraltete, noch immer in der Verfassung stehende Regelung stillschweigend ein.
Umida Niyazova leitet das in Berlin angesiedelte Usbekische Forum für Menschenrechte. Sie beschreibt den Fehler, den die Regierung hinsichtlich Karakalpakstans offenbar aus Unwissen machte.
„Diejenigen, die entschieden haben, diese Regelung zu ändern, wollten die Verfassung offenbar nur um Unstimmigkeiten bereinigen. Denn da gibt es wirklich Paragrafen, die sich widersprechen. Einer sagt, das Territorium Usbekistans sei unantastbar, und ein anderer, Karakalpakstan könne sich unabhängig machen. Diese Kurzsichtigkeit sowie die fehlende Nähe zur Bevölkerung und zu dem, wie die Menschen denken, haben dann zu den Massendemonstrationen mit Gewaltausbrüchen auf beiden Seiten geführt.“
Tatsächlich wäre ein unabhängiger Staat Karakalpakstan wohl wirtschaftlich unrealistisch. Die Region ist eine der ärmsten Usbekistans. Karakalpakstan umfasst rund 40 Prozent der Landesfläche, trägt jedoch nur etwa sieben Prozent zum Bruttoinlandsprodukt Usbekistans bei. Knapp zwei Millionen Menschen leben in der ausgedehnten Wüstenregion, etwa ein Viertel davon in der Hauptstadt Nukus.
Alleingelassen am ausgetrockneten Aralsee
Seit den 60er-Jahren leidet Karakalpakstan als Folge intensiver Landwirtschaft unter dem Austrocknen des Aralsees – einer der größten menschengemachten ökologischen Katastrophen weltweit. Die Region hat immer weniger Wasser. Giftige Staubstürme belasten die Gesundheit. Daher die hohe Protestbereitschaft der Menschen im Juli dieses Jahres, so Umida Niyazova.
„Also diese echten Probleme, das Fehlen von Infrastruktur, von sauberem Trinkwasser, all diese alltäglichen Schwierigkeiten, das hat sich über einen langen Zeitraum angestaut. Und plötzlich gab es mit der geplanten Verfassungsänderung einen realen Grund, der zu diesen Massenprotesten geführt hat, die niemand erwartet hatte.“
Die Lage hat sich beruhigt. Die usbekische Regierung hat die Karakalpakstan betreffenden Verfassungsänderungen ausgesetzt. Zweimal hat Präsident Mirziyoyev seitdem die Region besucht, verkündete Investitionsprogramme, um die Armut in der Region zu bekämpfen.
Zudem hat das usbekische Parlament eine Untersuchungskommission gebildet. Die soll den Ablauf der Ereignisse im Juli unabhängig – so heißt es – rekonstruieren.
Kommission spricht von objektiver Untersuchung
Bobur Bekmurodov ist Mitglied der Kommission. Der 37-Jährige sitzt für die Liberaldemokratische Partei, der auch Präsident Mirziyoyev angehört, im Unterhaus des Parlaments. Bekmurodov ist überzeugt, die Kommission werde die Proteste und den Umgang der Behörden mit den Bürgern unvoreingenommen analysieren.
„Wir müssen ein objektives Bild liefern, denn das ist ein sehr sensibles Thema. Wir müssen der Bevölkerung objektiv und ehrlich sagen, was die Gründe waren, was genau passiert ist und welche Perspektiven es gibt. Das wollen wir der eigenen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft offen sagen.“
Dass Offizielle wie Parlamentarier Bekmurodov spontan, ohne vorherigen schriftlichen Antrag auf Fragen internationaler Medien antworten, wäre in Usbekistan noch vor kurzem undenkbar gewesen. Das ist dem jetzigen Präsidenten Shavkat Mirziyoyev zu verdanken, der Usbekistan ein massives Reformprogramm verordnete, politisch und wirtschaftlich. Bekmurodov wehrt sich deshalb auch gegen Vorwürfe, Regierung und Kommission wollten die Schwere der Repressalien gegen inhaftierte Demonstranten verschleiern.
„Im Internet wird viel geschrieben. Da werden konkrete Namen genannt, der und der sei nicht mehr am Leben, oder der oder jener sei gefoltert worden. Wir als Kommission setzen uns mit all dem auseinander. Ich kann mit voller Überzeugung und Verantwortung sagen, dass alle Angehörigen vom Verbleib der Verdächtigen wissen, und dass es systematische Probleme wie Folter nicht mehr gibt.“
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Insgesamt wurden rund 500 Menschen bei und nach den Protesten in Karakalpakstan verhaftet – teilweise, so erzählt es Azimbay Ataniyazov aus Nukus, nur wegen Videos der Proteste auf ihren Handys. Viele seien zu Geständnissen gezwungen worden.
Pflichtverteidiger für verhafteten Blogger
Auch Bakhtigul Kadyrbergenova berichtet von Gewalt. Ihr Bruder Baktiyor Kadyrbergenov ist ein in Karakalpakstan bekannter Blogger, bis wenige Wochen vor den Protesten betrieb er einen Telegram-Kanal mit rund 10.000 Abonnenten, prangerte dort Misswirtschaft und Korruption in Karakalpakstan an. Am zweiten Tag der Proteste wurde Baktiyor Kadyrbergenov zuhause verhaftet, seine Technik beschlagnahmt. Tagelang suchte die Familie vergeblich nach ihm, bis man hörte, er sei in einem Gefängnis in Nukus. Gesehen hat die Familie ihn seit seiner Festnahme nicht, zum letzten Mal mit ihm gesprochen habe sie mit ihm per Telefon Ende Juli, erzählt die Schwester.
„Er sagte, wir sollten ihm Essen, Unterwäsche und Krücken bringen. Am Tag danach gingen wir zum Staatssicherheitsdienst, niemand nahm die Sachen an, das ginge nur über einen Anwalt. Sie sagten, wir würden einen Pflichtverteidiger bekommen, und dass mein Bruder Medikamente gegen Prellungen und Schwellungen sowie Krücken brauche. Wir haben das dann alles über einen Anwalt an den Staatssicherheitsdienst weitergeleitet.“
Wie es ihrem Bruder jetzt gehe, wisse sie nicht, sagt Bakhtigul Kadyrbergenova, doch als er zuhause abgeholt wurde, sei er noch gesund gewesen. Auch ein persönliches Treffen mit Kommissionsvertretern in Nukus habe nichts gebracht.
„Sie sagten nur, ach, das ist ein Blogger – als ob man einem Blogger nicht helfen könnte. Ich habe ihnen gesagt, dass er während der Proteste das Haus gar nicht verlassen habe. Außerdem hatte er schon vor zwei Monaten seinen Telegram-Kanal geschlossen.“
Angst vor Repressalien des Regimes
Laut seiner Schwester werde Baktiyor Kadyrbergenov „Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung“ vorgeworfen – bei einer Verurteilung drohen ihm mehr als zehn Jahre Haft. Kommunizieren könne sie mit dem Bruder derzeit nur über den durch die Behörden zugewiesenen Anwalt, erzählt sie. Zu dem fehle aber das Vertrauen.
„Derzeit können wir keinen unabhängigen Anwalt finden, wir haben nur einen Pflichtverteidiger. In Nukus lehnen alle Anwälte es ab, Menschen zu verteidigen, die in die Proteste verwickelt sein sollen. Deshalb wissen wir nicht mehr, an wen wir uns wenden sollen.“
Egal, wie transparent die Regierung in Usbekistan die Untersuchungen der Strafverfolgungsbehörden zu den Protesten nun erscheinen lassen mag – die Menschen in Usbekistan haben weiterhin Angst vor Repressalien des Regimes.
Und die wichtigste geplante Verfassungsänderung ist auch nach den Protesten in Karakalpakstan ja nicht vom Tisch. Die Amtszeit des Präsidenten soll von fünf Jahren auf sieben verlängert, die maximale Zahl der Amtszeiten damit auf null zurückgesetzt werden. Mirziyoyev, seit 2017 Präsident und derzeit in seiner zweiten und eigentlich letzten Regierungszeit, könnte so mindestens weitere 14 Jahre im Amt bleiben. Ein Datum für das Referendum über die geplante Verfassungsänderung wurde bisher nicht genannt.