Singen für die Seele
Irgendwo zwischen Peinlichkeit und Paradeauftritt: Karaoke verbindet. © Imago/David Heerde
Karaoke: Mehr Superstar wagen!

Es ist ein Partyspaß und viel mehr: Wer beim Karaoke vor anderen singt, obwohl er das vielleicht gar nicht so gut kann, macht sich verletzlich. In der richtigen Gruppe kann daraus Unvergessliches entstehen. Ein Plädoyer für mehr Superstar-Vibes in unserem Leben.
Je nach Stimmung bin ich Freddie Mercury oder Gangsta-Rapper Notorious B.I.G., an manchen Tagen bin ich auch Adele. So fühlt es sich zumindest an, wenn ich an deren Welthits entlang singe. Und weil Singen befreit und gute Laune macht, ist mein Auto für mich fast täglich eine fahrende Karaoke-Bar. Nur das Publikum ist kleiner geworden. Meine Kinder sind inzwischen so groß, dass der Gesang des Alten gar nicht mehr geht.
Gleich gesinnte Beifahrer sind rar, der Spaß dann aber umso größer. Diese Magie erklärt auch den Erfolg von „Carpool Karaoke“. Für dieses TV-Format cruiste Moderator James Corden bis 2023 mit den größten (Musik)Stars durch den Verkehr und hatte einen Heidenspaß, deren Lieblingshits zu schmettern. Perfekt unperfekter Gesang in einem scheinbar intimen Rahmen - das wollten Millionen Menschen sehen.
„Is this the real life? Is this just fantasy?"
Darum geht es bei Karaoke: um Gemeinschaft, und weniger um den perfekten Auftritt. Die beliebtesten Songs weltweit sind deshalb die, bei denen jeder mitsingen kann: Neil Diamonds „Sweet Caroline“ etwa oder „Bohemian Rhapsody“ von Queen, vor allem aber Hits in der jeweiligen Muttersprache, erklärt Andreas Neuenkirchen.
Der in Tokio lebende Autor hat die Kulturgeschichte des Karaoke-Singens aufgeschrieben. Dessen Wurzeln gehen zurück bis ins Jahr 1967, als es der japanische Ingenieur Shigeichi Negishi mit seiner „Sparko Box“ als einer der Ersten technisch möglich machte, zu einem Song Playback zu singen. Negishi starb im 2024 im Alter von hundert - mangels Patent auf seine Erfindung nicht märchenhaft reich, aber in der Gewissheit, mit seiner Idee vielen Menschen Freude gemacht zu haben.
„Live and let die!“ - eine Frage von Leben und Tod
Freude, die schon etwas Überwindung kostet. Schließlich macht sich keiner gerne vor anderen zum Affen. Meine erste Karaoke-Bar-Erfahrung machte ich dementsprechend in den späteren Stunden einer betrieblichen Weihnachtsfeier, als sich genügend Lockerheit angesammelt hatte.
Den Titel wählte ich ohne großes Risiko: „Angels“ von Robbie Williams. Spätestens beim Refrain, so das Kalkül, singen alle mit und meine schmerzhafte stimmliche Begrenztheit geht im Chor unter. Hat geklappt. Und war eine Riesengaudi, die mir auch nach Jahren noch ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Aber aufgepasst! Die Wahl des Titels sollte keiner auf die leichte Schulter nehmen, sie kann durchaus über Leben und Tod entscheiden. Als gefährlichsten Song hat Autor Neuenkirchen Frank Sinatras „My way“ ausgemacht. Dessen Zeilen schmetternd kamen auf den Philippinen binnen eines Jahrzehnts zwölf Menschen zu Tode. Die Gründe sind verschieden, Neunkirchen geht aber davon aus, dass die „Ihr könnt mir gar nichts"-Attitüde des Liedes zu den entscheidenden Faktoren für die tödlichen Attacken auf die Sinatra-Performer zählt.
„Friends will be friends“ - Karaoke verbindet Generationen
Interessant ist, dass Karaoke ausgerechnet in Japan so große Popularität genießt. In einer Gesellschaft, die sonst enorme Angst vor Gesichtsverlust hat, gehen Freunde oder auch Arbeitskolleginnen und -kollegen statistisch gesehen einmal im Monat gemeinsam zum Singen. In dieser Hinsicht ganz schön locker, die Japaner.
Mittels japanischer Unterhaltungselektronik habe ich inzwischen eine Karaoke-Möglichkeit für zu Hause. Das einzige Videospiel, das Generationen verbindet: Meine Tochter, die meine Auto-Performances verschmäht, singt selbst für ihr Leben gern mit ihren Freundinnen. Eine legendär schiefe „I want it all“-Interpretation des Patenonkels ist ins kollektive Familiengedächtnis eingegangen.
Mein Favorit ist Marc Cohns „Walking in Memphis“ - vor allem die letzten, langsamer werdenden Takte, die im Radio oft ausgeblendet werden: „Touched down in the Land of the Delta Blues, in the middle of the pouring rain…“ - einfach großartig.