Karen Duve: "Fräulein Nettes kurzer Sommer"
Galiani Verlag, Berlin 2018
592 Seiten, 25 Euro
Die Zerrissenheit der Annette von Droste-Hülshoff
Karen Duve erzählt die Geschichte der vielseitig begabten Annette von Droste-Hülshoff, die im 19. Jahrhundert gegen viele Widerstände zu kämpfen hatte. Kern des Romans sind die Ereignisse des Sommers 1820. Ein überaus interessantes Buch mit scharfem Witz.
In der Schule mussten wir sie auswendig lernen, die Ballade vom Knaben im Moor ("O schaurig ists, übers Moor zu gehn..."). Die - und die Novelle "Die Judenbuche" - haben Generationen von Schulkindern gelesen.
Dass Annette von Droste zu Hülshoff (1797 -1848) als Dichterin gegen viele Widerstände zu kämpfen hatte, und zu ihren Lebezeiten nichts für ihren langen posthumen Ruhm sprach, lernten wir dagegen nicht.
In ihrem neuesten Roman erzählt Karen Duve nun die Geschichte dieser vielseitig begabten Frau, die sich in den Konventionen des katholischen Landadels gefangen fühlt und dennoch nicht wagt, ihren literarischen und amourösen Neigungen konsequent zu folgen.
Nun ist Karen Duve bekannt für pointierte, bissige bis kämpferische Töne – zumal, wenn es um Frauen geht und den ihnen zugewiesenen Platz in der Welt. Mit der Droste hat sie eine Figur gefunden, an der sie ihren Hang zur Satire, ihr Engagement und ihre Lust am üppigen Erzählen gleichzeitig ausleben kann.
Sommeraffäre mit widersprüchlichen Gefühlen
Kern des Romans sind die nie ganz geklärten Ereignisse des Sommers 1820, der dem Roman seinen Titel gibt: Das kränkliche, dünne 23-jährige Freifräulein Nette mit der immer etwas zu lauten Stimme, den Glubschaugen und dem unziemlichen Interesse an Männerangelegenheiten wie Mineralogie, Geschichte, Literatur und Politik gewinnt zur Überraschung ihres auf dem Familiensitz Bökendorf versammelten Clans die Zuneigung manchen jungen Mannes aus dem großen Freundeskreis ihres (nur wenig älteren) Onkels August von Haxthausen.
Bereits seit längerer Zeit unterhält sie eine innige Herzensfreundschaft mit dem mittellosen bürgerlichen Dichter Heinrich Straube, den sein Mäzen August für mindestens so genial wie Goethe hält - aber nicht für die passende Partie. Zudem taucht in diesem Sommer ein weiterer Dichter auf, August von Arnswaldt aus demselben Kreis jungdeutscher Romantiker: gutaussehend, adelig und düster-fromm. Er ist ebenfalls von der eigenartigen jungen Frau eingenommen, versteckt sein Begehren jedoch hinter einem vorgeblichen Auftrag Straubes, die Angebetete "zu prüfen". Annette ist von Arnswaldt angezogen, weist ihn aber zurück. Viele widersprüchliche Gefühle spielen bei dieser Sommeraffäre mit, auch seitens der Verwandtschaft - und Karen Duve malt alles plausibel und sinnlich in fiktionaler Freiheit aus.
Historisch interessant mit scharfem Witz
Am Ende ist Annette diskreditiert, sie verliert Straube – und sie verliert ihre Kühnheit und ihr Selbstbewusstsein als Dichterin. Trotz ihres rebellischen Geistes bleibt sie ein katholisches Fräulein bis zum Tod.
Karen Duve erzählt diese Geschichte überaus farbig, mit viel Zeitkolorit, gestützt auf das reichliche dokumentarische Material aus einer Zeit, als die Leute sich lange detaillierte Briefe schrieben. Die Brüder Grimm treten auf, Hoffmann von Fallersleben, der Dichter Kotzebue und sein Mörder Sand, der junge Heinrich Heine und viele andere mehr.
Manche Leerstellen der Geschichte füllt Duve aufs Vergnüglichste; aber nicht immer funktioniert das Gleichgewicht zwischen Erzählrhythmus und historischen Details, die oft allzu breiten Raum einnehmen.
Auch springt der Text manchmal unvermittelt aus der Perspektive einer Figur in ein typisches Duve-Bonmot. Das ist manchmal sehr witzig, macht aber die Figur inkonsistent. Manchmal ist es auch ärgerlich, weil der Leserin allzu nah gelegt wird, was sie von alledem zu denken hat. Das Subtile liegt Karen Duve weniger als der scharfe Witz - und von Letzterem bekommt man in diesem historisch überaus interessanten Buch reichlich zu kosten.