Karin Harrasser: "Surazo"
© Matthes & Seitz
Nazi-Netzwerke im Dschungel
34:45 Minuten
Karin Harrasser
Surazo. Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in BolivienMatthes & Seitz, Berlin 2022270 Seiten
27,00 Euro
Dass Südamerika nach dem Krieg ein Refugium für Nazis war, ist bekannt. Wie verzweigt die Verstrickungen der bolivianischen Wirtschaftselite und Regierung mit den Altnazis war, zeigt Karin Harasser anhand der Familiensaga von Hans und Monika Ertl.
Kulturwissenschaftler sind die Hybride unter den Geisteswissenschaftlern. Halb leben sie in den luftigen Sphären der Theoriebildung, halb durchpflügen sie das weite Feld der Alltagserscheinungen, betätigen sich als Archäologen des kulturellen Lebens – teilweise mit dem Werkzeug der Ethnografen ausgestattet, teilweise mit dem der Historiker, der Sprachforscher, der Mythologen und Medienprofis. Bilder, Film und Funk sind neben Büchern lange schon Quelle sowie Erkenntnismedium der Interdisziplin. So ist es nur konsequent, wenn die in Linz lehrende Karin Harrasser jetzt ein Buch vorlegt, das mit filmischen Erzählweisen arbeitet, um das unglaubliche Nachleben der Nazi-Elite in Südamerika zu entfalten.
Entnazifizierungsprobleme
„Surazo“ ist der Name eines kalten Polarwindes, der regelmäßig über die bolivianischen Tropen bläst und dort die Temperatur von einem auf den anderen Tag um mehr als zwanzig Grad fallen lässt. Harrasser hat ihr Buch nach ihm benannt, womit sie wiederum den letzten Film ihres Protagonisten Hans Ertl zitiert. Das Buch „Surazo“ handelt leitmotivisch vom Vater-Tochter-Duo Hans und Monika. Er, ein im Nationalsozialismus berühmter Bergsteiger und Filmemacher, der an Leni Riefenstahls berüchtigter Olympia-Doku mitwirkte und sich nach dem Krieg der Entnazifizierung durch Flucht nach La Paz entzog. Sie, die Tochter eines exzentrischen Abenteurers und politischen Opportunisten, die sich Ende der Sechzigerjahre im bolivianischen Bergbaumilieu radikalisiert und zu einer führenden Persönlichkeit in Che Guevaras Nationaler Befreiungsarmee wird.
In weiteren Rollen treten auf: Klaus Barbie, der „Schlächter von Lyon“, Leni Riefenstahl, mit der Hans Ertl eine feurige Affäre hatte, und der italienische Verleger Feltrinelli, mit dessen Revolver der bolivianische Geheimdienstchef in Hamburg erschossen wurde – von einer Frau. Vermutlich von Monika Ertl. Ein Plot, der schon per Kurzvorstellung nach seiner Verfilmung schreit!
Ein Eremit im Dschungel
Harrassers Buch ist entsprechend filmisch arrangiert – nach „Vorspann“, „Nahaufnahmen“, „Rückblenden“, „Zoom in“, „Schwenks“ und „Schlussbilder“. Damit kommt lineares Erzählen nicht infrage. Aber davon musste sich die Autorin schon gleich zu Beginn ihrer Arbeit in Bolivien verabschieden. Eigentlich war sie gekommen, um über die Einflüsse der jesuitischen Mission zu forschen. Dann wird sie auf einen deutschen Eremiten mit Rauschebart aufmerksam, der bis ins Jahr 2000 auf einer selbst errichteten Rinderfarm im bolivianischen Tiefland lebte und Journalisten gerne den ein oder anderen Schwank aus seinem Leben erzählte.
Hans Ertl ist eine Art Verbindungsmann in Harrassers Studie. In seiner Person laufen jedenfalls sämtliche Fäden aus dem Netzwerk der Unverbesserlichen zusammen. Mit dem bolivianischen Diktator Hugo Banzer, der Ertls Nachbar war im Dschungel, war man per Du. Mit Klaus Barbie pflegte man weltanschauliche Gewissheiten, die in der BRD nicht mehr gefragt waren. Dass ausgerechnet seine geliebte Tochter die Seiten wechseln sollte, war ein harter Schlag für Papa Ertl.
Begraben in der Wehrmachtsuniform
Angeblich war „Onkel Klaus“ persönlich an Monikas späterer Ermordung beteiligt. Auf ihn ließ Ertl trotzdem nichts kommen. Ebenso wenig auf den deutschstämmigen Diktator Banzer, der Ertl eine Seiko-Uhr mit persönlicher Widmung geschenkt hatte und der für Monikas Exekutierung in La Paz verantwortlich war. Hans Ertl überlebte seine Tochter um Jahrzehnte und ließ sich in seiner Wehrmachtsuniform begraben.
Karin Harrassers Buch ist eine Fundgrube voller politischer, psychologischer und kultureller Skurrilitäten, die sich als der lange Schatten der Nazi-Ära erweisen. Dabei hält sich die Autorin, die weder eine steile These noch ein Narrativ verfolgt, an das Bonmot ihrer Lehrerin Donna Haraway: „Nicht alles hängt mit allem zusammen, aber jedes mit etwas.“ Wer „Surazo“ mit dieser Haltung lesen kann, der geht mit großem Erkenntnisgewinn aus der Lektüre heraus.