Karin Kalisa: "Radio Activity"
C.H.Beck, München 2019
351 Seiten, 22 Euro
Verbrechen an einem Kind
11:22 Minuten
In ihrem Roman "Radio Activity" thematisiert die Autorin Karin Kalisa sexuellen Kindesmissbrauch und den schwierigen Umgang damit, wenn dieser Missbrauch verjährt ist. Es geht um Verstehen, Gerechtigkeit – und um Rache.
Frank Meyer: "Sungs Laden", das war der erste Roman von Karin Kalisa, 2015 ist er erschienen und gleich zu einem Bestseller geworden. Karin Kalisa lebt in Berlin, nach Stationen unter anderem in Tokyo und Wien. Sie beschäftigt sich viel mit asiatischen Sprachen, mit Philosophie, mit ethnologischen Beschreibungen. Und morgen wird nun der zweite Roman von Karin Kalisa erscheinen, "Radio Activity" heißt dieser Roman. Vier Jahre ist es jetzt her, dass "Sungs Laden" herausgekommen ist. Mussten Sie jetzt Anlauf nehmen, um sich nach dem großen Erfolg mit ihrem ersten Roman an den zweiten zu setzen?
Karin Kalisa: Nein, ich würde nicht sagen "Anlauf nehmen" - es ist ja so, dass die Geschichten in einem langsam entstehen, und man mit Anlauf ja nicht so viel bewegen kann. Man muss eher ein bisschen abwarten, und schauen, wie das wächst, in welche Richtung, wie schnell, und sich dann hineinbewegen in diese Geschichte. Und ich kann einfach sagen, dass diese Vorstellung davon, dass das zweite Buch besonders schwierig ist, das hat man mir natürlich oft gesagt. Dann irgendwann im Schreibprozess einfach nicht mehr so wichtig ist. Das war nicht das, was mit hauptsächlich beschäftigt hat beim Schreiben.
Karin Kalisa: Nein, ich würde nicht sagen "Anlauf nehmen" - es ist ja so, dass die Geschichten in einem langsam entstehen, und man mit Anlauf ja nicht so viel bewegen kann. Man muss eher ein bisschen abwarten, und schauen, wie das wächst, in welche Richtung, wie schnell, und sich dann hineinbewegen in diese Geschichte. Und ich kann einfach sagen, dass diese Vorstellung davon, dass das zweite Buch besonders schwierig ist, das hat man mir natürlich oft gesagt. Dann irgendwann im Schreibprozess einfach nicht mehr so wichtig ist. Das war nicht das, was mit hauptsächlich beschäftigt hat beim Schreiben.
Meyer: "Sungs Laden" das war ein Roman, der ganz dem Hellen, der guten Laune und dem Vertrauen in die Welt verpflichtet ist, so hat der Spiegel zumindest dieses Buch gelesen. Jetzt Ihr neues Buch, das hat auch vieles Tragisches, Schmerzliches. Haben Sie sich bewusst dafür entschieden, jetzt einen anderen Ton anzuschlagen, auf ein anderes Gebiet zu gehen?
Kalisa: Diese Beschreibung, die sie eben zitiert haben, die ist ganz bestimmt nicht falsch, aber…
Meyer: ...auch nicht ganz richtig.
Kalisa: Auch nicht ganz richtig. Oder zumindest in diesem Ausschnitt fehlt vielleicht doch etwas. Es gab ja damals auch die Beschreibung "Sommermärchen". Ich habe das schon damals so wenig verstanden, dass ich erst dachte, es ist von einem anderen Buch die Rede. Weil es geht ja auch dort, um das wirklich sehr schwere und tragische Schicksal der vietnamesischen Vertragsarbeiter. Es geht um den Vietnamkrieg und auch dort um Traumata, die intergenerationell weitergegeben werden. Von daher habe ich tatsächlich überhaupt nicht das Gefühl gehabt, dass ich jetzt auf einmal auf eine ganz andere Schiene gehe. Für mich war das tatsächlich überhaupt nicht so, sondern im Grunde war es für mich eigentlich so, dass das, was mich bewegt, oder das, was für mich Stoff werden kann, für mich ziemlich auf einer Ebene gelegen hat.
"Ich reise immer nur mit Weltempfänger"
Meyer: Schauen wir zuerst mal auf eine Seite, die zu dem ganzen Setting gehört, die gerade für uns hier im Radio eine höchst erfreuliche Seite ist, denn im ersten Teil Ihres Buches, da bauen drei junge Leute eine Radiostation auf mit dem schönen Namen "Tee und Teer", und wie Sie davon erzählen, das ist so ein richtiger Lobgesang auf die Möglichkeiten und die Schönheit des Radios, was einen als Radiomacher natürlich sehr freut. Wie sind Sie denn zu dieser Hymne auf das Radio gekommen? Hat das Radio in Ihrem Leben eine so große Rolle gespielt?
Kalisa: Ja, das kann ich schon sagen. Das Radio ist für mich selbst etwas ganz Wichtiges, was überhaupt nicht wegzudenken ist. Ich reise auch immer nur mit Weltempfänger. Und viele finden das natürlich nostalgisch und anachronistisch, insbesondere meine Kinder, die mit ganz anderen Medien groß werden. Aber ich sage denen da immer, ja, verlasst euch doch nicht auf eine stabile WLAN-Verbindung und Stromversorgung, hier mit dem Weltempfänger könnt ihr…
Meyer: Da müssen wir vielleicht für die Jüngeren erklären: Das ist ein Gerät, mit dem man überall oder fast überall auf der Welt tatsächlich Radio hören kann.
Kalisa: Genau. Und ich habe es auch immer besonders genossen, fremde Sprachen zu hören und, ja, also dieses Gefühl zu haben, dass ich… Auch wenn ich irgendwo in einem einsamen Hotelzimmer strande oder an irgendeinem anderen, einsamen, verlorenen Winkel dieser Erde: Ich habe meinen Weltempfänger dabei, mir kann nichts passieren.
"Sie steht ziemlich fassungslos davor"
Meyer: Und in Ihrem Roman geht es um die Sender, die dann in einem Weltempfänger auftauchen können. Also es gibt eine Radiostation von diesen drei jungen Menschen, von der aus einiges in Bewegung gebracht wird. Und im Kern Ihres Buches, darauf würde ich gerne kommen, geht es um den sexuellen Missbrauch eines Kindes. Dieser Missbrauch ist juristisch gesehen verjährt, aber ihre Hauptfigur, das ist eine dieser Radiomacherinnen, eine hochsympathische, junge Frau, die will trotzdem, trotz dieser Verjährung - ja, was will sie? Will sie Gerechtigkeit, will sie den Täter zur Verantwortung ziehen, will sie Rache nehmen? Wie würden Sie das beschreiben, was sie will?
Kalisa: Ich glaube, Sie haben das ganz gut jetzt eigentlich schon anklingen lassen, wahrscheinlich von all dem, was Sie eben gesagt haben, etwas. Sie weiß es eben selber noch nicht so genau. Sie ist davon betroffen, nicht direkt sozusagen, es ist aber in ihrer Familie, und sie steht ziemlich fassungslos davor, dass tatsächlich juristisch nichts mehr zu machen ist, wie man das salopp sagen kann, und probiert jetzt quasi verschiedene Möglichkeiten aus, doch noch tätig zu werden, Radio Activity eben, und, ja, holt sich dabei das eine oder andere blaue Auge und tritt auch selber in einen Prozess ein, in dem sie überlegt, was sie denn tatsächlich will, und das ist am Anfang nicht das Gleiche wie am Ende. Und dies geschieht in Auseinandersetzung mit den juristischen Regelungen, die sie dann natürlich zum Teil auch wieder wütend machen. Ja, also es ist ein Prozess der Auseinandersetzung, der sich durch den Roman zieht.
Meyer: Weil Sie gerade die Gesetze ansprechen: Ihr Roman hat ja, so wie ich ihn gelesen habe, eine starke These, nämlich, dass unsere Gesetze zur Ahndung von Kindesmissbrauch extrem ungerecht sind, den Opfern gegenüber ungerecht sind. War das ein Ausgangspunkt für den Roman oder vielleicht auch der Ausgangspunkt, Ihre eigene Empörung über diese Gesetze?
Kalisa: So würde ich das vielleicht nicht sagen. Also, es ist ja nicht eins zu eins meine Empörung und meine These, sondern sie ist ja tatsächlich in eine, ja, fiktionale Handlung eingebettet. Aber was ich sagen kann, was mir wichtig war, ist, dass die juristischen Regelungen debattierbar werden und dass, so hoffe ich, gezeigt wird, dass es tatsächlich diesen Debattierbedarf gibt, dass so eine Institution wie die Verjährung mal von allen Seiten angesehen und durchgesprochen werden muss und auch mit offenem Ergebnis und dass man nicht einfach immer nur auf die Rechtslage verweist, so ist es dann eben, sondern dass man wirklich guckt, ob die Regelungen angemessen sind und ob wir, ja, gesellschaftlich tatsächlich die Effekte auch dieser Regelungen tragen wollen und können.
"Ich habe mir rechtsphilosophische Texte besorgt"
Meyer: Jetzt ist es ja nicht einfach, juristische Diskussionen in eine Romanhandlung zu übersetzen. Ich muss sagen, dass Ihnen, also aus meiner Sicht, das sehr gut gelungen ist, diese Fragen, die Sie da aufwerfen, wie gut diese Gesetze tatsächlich geeignet sind, den Opfern eine Form von Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dass Sie das sehr stark umgesetzt haben. Wie viel Arbeit war das, tatsächlich Jura zu übersetzen in eine Romangeschichte?
Kalisa: Was ich gemacht habe, ich habe mir Gesetzestexte, ich habe mir rechtsphilosophische Texte besorgt, ich habe die gelesen, aber eben mit den Augen einer Nicht-Juristin, und habe mich sozusagen in diese Texte begeben mit der Einstellung, dass ich sie jetzt so lese, wie sie eigentlich die meisten Leute lesen würden, die… wenn ihnen etwas zustößt, wenn ihnen ein Verbrechen widerfährt und sie wollen herausfinden, wie das eigentlich gesetzlich geregelt ist, wie diese Gesetze auch sprachlich auf sie zukommen. Das ist für mich eine sehr eindrückliche Erfahrung gewesen. Und im Grunde habe ich nichts anderes gemacht, als diese Erfahrung mit den Mitteln, die ich habe, in diesen Roman einfließen zu lassen.
Meyer: Ihr Roman hat eben dieses schmerzliche Thema, von dem Sie sehr eindringlich, muss ich sagen, schreiben, wie kann so ein sexueller Missbrauch ablaufen, was sind die Folgen, die möglichen Folgen, er hat aber bei aller Schmerzlichkeit, der Roman, würde ich sagen, auch eine helle Seite, vielleicht so etwas… Ich bin irgendwann auf den Begriff "ein realistisches Märchen" gekommen. Ich weiß nicht, ob Sie das ganz abwegig finden oder ob Sie sagen, ja, könnte was dran sein?
Kalisa: Ja, mit dem Märchen tue ich mich ein bisschen schwer, muss ich gestehen. Das war ja schon bei "Sungs Laden" der Fall. Ich habe das ganz gern, wenn … Oder es ist sozusagen etwas, was ich für mich so ein bisschen als eine Maxime vielleicht beim Schreiben entwickelt habe, dass das eine das andere nicht ausschließt. Und das ist ja eine Erfahrung, die wir nicht immer, aber doch auch häufig im Leben selber machen können. Und es ist mir ein Anliegen, diese beiden Aspekte miteinander zu verbinden, nicht nur, weil ich eben denke, so müsste es sein und so ist es nie im Leben und ich möchte aber gerne, dass es so ist, Stichwort Märchen, sondern weil meine Erfahrung ist, dass wir ja tatsächlich häufig genau diese Verschlungenheit haben und dass ich die eigentlich auch ganz gerne in einem Roman zum Ausdruck bringen möchte und mich nicht nur auf die eine oder nur auf die andere Seite stellen möchte. Aber ich weiß natürlich, dass es auch Geschichten und auch Situationen gibt, die man beim besten Willen eigentlich nicht mehr so bearbeiten kann. Aber soweit es mir möglich war, habe ich das versucht.
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