Karine Tuil: "Die Zeit der Ruhelosen"
Ullstein Verlag, Berlin 2017
512 Seiten, 24,00 Euro
Abgesang auf die französische Gesellschaft
In ihrem neuen Roman beschäftigt sich die Autorin Karine Tuil mit dem Zerfall der französischen Gesellschaft. Im Interview spricht sie über "Parallelwelten", die ihr bei der Recherche begegneten - die politische Führungsschicht habe nichts mehr gemeinsam mit dem Volk, sagt sie.
Andrea Gerk: Frankreich wählt in Kürze einen neuen Präsidenten, und derzeit scheint Emmanuel Macron mit Marine Le Pen fast gleichauf zu stehen. Der rechtskonservative Francois Fillon folgt an dritter Stelle, und die Linke ist zersplittert und abgeschlagen.
Die französische Schriftstellerin Karine Tuil hat sich in ihrem Werk viel mit den Verfilzungen und Erosionsbewegungen in der französischen Gesellschaft auseinandergesetzt.
Auch ihr neuer Roman "Die Zeit der Ruhelosen" erzählt von Menschen, die vom Wunsch nach Macht und Anerkennung getrieben sind. Vor dieser Sendung hatte ich Gelegenheit, mit Karine Tuil zu sprechen. Guten Tag, Madame Tuil! Bon jour nach Paris!
Karine Tuil: Bon jour!
Gerk: Ihr Buch ist ja sehr nahe am Geist der Zeit und spiegelt vieles, was die französische Gesellschaft offenbar bewegt. Gab es denn konkrete Vorbilder für Ihre drei Protagonisten? Da gibt es den Afghanistanheimkehrer Romain Roller, den Manager François Vély und Osman Diboula, den Aufsteiger aus der Vorstadt. Hatten Sie da Personen im Kopf, als Sie das geschrieben haben?
Tuil: Ja, natürlich wollte ich einen Roman schreiben, der unsere Zeit reflektiert, der sagt, wo wir stehen, wie die Lage in Frankreich zu fassen ist. Ich habe aus einer Lust geschrieben, von innen heraus erzählen zu wollen und da zuerst auf meinen Protagonisten Osman Diboula geschaut, diesen Aufsteiger aus der Vorstadt, der schwarz ist, der 2005 erlebt hat, wie die Vorstadt in Flammen gesetzt wurde, und er ist jemand, der durch die Institutionen geht, aber natürlich geblockt wird, einfach weil er schwarz ist.
François Vély, das ist ein Chef, der in einem Telekommunikationsunternehmen ganz oben an der Spitze steht, das heißt, er hat sehr viel Einfluss, einen großen Erfolg, und das ist das, was zurzeit zählt, wenn man weiterkommen will.
Natürlich interessiert es mich, über Rückkehrer aus dem Krieg nachzudenken in einer Zeit, wo wir überall in Frankreich Militär postiert sehen. Das sind alles Männer und Frauen, die eine militärische Karriere gemacht haben im Ausland und über die wir sehr wenig wissen.
Gerk: Wie recherchieren Sie denn da? Gleich am Anfang, als Sie einen da mit nach Afghanistan nehmen, hat man ja das Gefühl, man ist mitten drin. Wie schaffen Sie das?
Tuil: Ich habe in der Tat sehr viel recherchiert und anfangs wirklich erst einmal Bücher gelesen, Bücher, Bücher, Bücher, bis ich dann auf Menschen zugegangen bin und Kontakte geknüpft habe, zum Beispiel zu Soldaten, aber auch zu Psychiatern.
Suche nach der "wahren Wirklichkeit"
Ich habe auch mit vielen Verletzten gesprochen, mit Soldaten, die aus Afghanistan zurückgekehrt waren. Was die ganze Domäne der Politik angeht, ja, ich bin mit Beratern des Präsidenten zusammengetroffen, und ich habe mit den Leuten gesprochen, die man in Frankreich plume (französisch: Feder, Ghostwriter) nennt, das sind die Redenschreiber der großen Politiker, und die Firmenchefs natürlich: An die musste ich auch herangehen. Ich habe drei Jahre lang Kontakte gehabt und habe mich in große Unternehmen begeben, um zu verstehen, wie sie ticken, und, ja, die wahre Wirklichkeit ist das, was ich ins Auge fasse, wenn ich schreibe.
Gerk: Wenn Sie da so Zugang auch zu diesen Zirkeln der ökonomischen Macht hatten, können Sie jetzt besser verstehen, wie es sein kann, dass sich die politische und ökonomische Klasse in Frankreich derart selbst zerfleischt?
Tuil: Ja, der Roman handelt von der Abkoppelung der Eliten und von Parallelwelten, die keinerlei Verbindung mehr haben zu anderen Schichten. Das Universum der politischen Führungsschicht hat nichts mehr gemeinsam mit dem Volk.
Ganz zu Beginn des Buches beschreibe ich ja das Diner du Siècle, das ist ein großes Abendessen, zu dem einmal im Monat alle wichtigen und einflussreichen Personen des ganzen Landes eingeladen werden und die dann dort zusammenkommen, sich austauschen.
Leider sieht man ja auch im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen Tag für Tag neue Skandale, die die Gesellschaft erschüttern, es wird wegen Korruption ermittelt, auch wegen Amtsmissbrauch. Mein Buch geht auch der Frage nach, wie man und wo man überhaupt noch einen Platz für sich finden kann, wenn man nicht aus einer gehobenen Klasse stammt.
Gerk: Für dieses andere Milieu, das Sie jetzt angesprochen haben, steht ja Ihr Protagonist Osman Diboula, und Sie sind ja selbst Kind tunesisch-jüdischer Einwanderer. Kennen Sie dieses Milieu, aus dem er kommt, aus eigener Anschauung?
Tuil: Als meine Eltern nach Frankreich kamen, haben auch sie zuerst in einer Vorstadt gelebt, aber die waren damals noch nicht so runtergekommen, und sie gehörten natürlich einer anderen Generation an, wo es noch möglich war, einen Platz in der französischen Gesellschaft sich zu erarbeiten. Das ist heute, wie wir wissen, einfach sehr viel schwieriger.
Ich bin tatsächlich mit einer Liebe für Frankreich aufgewachsen und auch so erzogen worden. Ich hatte eine starke Beziehung zu diesem Vaterland Frankreich, aber es gibt bestimmte Gegenden, auch Viertel, in denen man wirklich nur noch auf Zorn und Hass trifft. Da reicht es, das eine Ungerechtigkeit publik wird, und schon bricht sich da wirklich großer Widerstand und eben Hass Bahn. Deshalb war es für mich wichtig, in der Figur des Osman Diboula noch mal auf die Ereignisse um 2005 zurückzugucken, wo zwei Jugendliche getötet wurden während einer Polizeikontrolle und dann in der Vorstadt wirklich alles in Brand geriet.
Gerk: Es ist ja schon viel darüber diskutiert worden, was im Verhältnis Frankreichs zu seinen Einwanderern falsch gelaufen ist oder auch falsch gemacht wird, aber was denken Sie denn, was man tun könnte, um diese auseinanderdriftenden Teile der Gesellschaft vielleicht doch miteinander zu versöhnen?
Die Politik hat keine Lösungen parat
Tuil: Das ist kompliziert. Alles ist schwierig geworden, und die Politik hat definitiv keine Lösungen anzubieten. Das ist ein riesiges Problem in unserem Land, und die Gesellschaft ist zerrissen, wie sie es vielleicht nie zuvor war.
In dieser Situation ist der Schriftsteller in seiner Rolle tatsächlich gefragt. Ich verstehe mich als Zeugin, aber ich denke, vielen anderen Kollegen geht es auch so. Wir Schriftsteller sind diejenigen, die Fragen stellen müssen, die die Politik nicht imstande ist zu stellen oder sich nicht traut zu fragen.
Gerk: Jetzt gilt ja vielen Emmanuel Macron als so eine Art Hoffnungsgestalt, einen Hoffnungsträger, er ist ein richtiger Politikstar. Glauben Sie, dass er an der verfahrenen gesamtgesellschaftlichen Situation tatsächlich etwas ändern könnte, wenn er diese Wahl jetzt gewinnen sollte?
Tuil: Ja, stimmt, es gibt große Unsicherheiten, was den Wahlausgang angeht. Ich kenne wirklich niemanden, der sich getraut, eine Aussage zu treffen und zu sagen, der oder die wird es. Es ist nicht möglich. In Frankreich herrscht eine dermaßen große Angst vor dem Aufstieg der extremen Rechten, für die nun mal Marine Le Pen steht, und Emmanuel Macron, gut, er verkörpert Europa, er bekennt sich zu Europa, er ist modern, und wenn er Reden hält, dann geht es oft um das Thema der Gleichheit. Er gefällt den Leuten.
Das bekommt man schon mit, man sieht es. Er hat Erfahrung als Wirtschaftsminister, er war aber kein Lokalpolitiker, also von daher gibt es auch Befürchtungen, ob er dem Amt wirklich gewachsen ist, ob man ihm diese Rolle tatsächlich zuweisen sollte dann auch über die Wahlen an der Urne. Wir haben natürlich den Ausnahmezustand, der längst noch nicht aufgehoben ist. Es gibt also wirklich auch gravierende wirtschaftliche Probleme, die man in den Griff bekommen muss, und all das nährt sehr viele Unsicherheiten.
Gerk: Sollte das eintreten, was, wie Sie sagen, viele fürchten, dass Marine Le Pen das Rennen macht, was denken Sie denn, was die schlimmstmöglichen Folgen dann werden, dass diese Spaltung der französischen Gesellschaft noch vertiefen?
Unter Marine Le Pen würde die Gesellschaft zerfallen
Tuil: Ja, ich bin überzeugt, dass unter ihr die Gesellschaft wirklich zerfallen würde. Es sind immense Risiken, die da auf uns zukämen. Wie soll man denn dann noch zusammenleben, wenn das Votum für Marine Le Pen ausgehen sollte.
In einer letzten großen Diskussionsrunde, an der alle Kandidaten der Präsidentschaftswahlen teilgenommen haben, hat sie sehr, sehr harte Worte gesprochen. Emmanuel Macron war derjenige, der darauf reagierte, der sagte, die Franzosen dürfen nicht weiter gespalten werden.
Es ist also offenbar die größte Angst, und selbst das Wort vom Bürgerkrieg hat da schon die Runde gemacht. Selbst wenn ich glaube, dass das nicht passieren würde – das ist dann doch zu stark – aber selbst Manuel Valls, als er noch Premierminister war, hat von Apartheit gesprochen mit Blick auf bestimmte Viertel. Also so ist es bestellt, und so krass verlaufen Bruchlinien in der französischen Gesellschaft.
Gerk: Sehen Sie da irgendein Mittel, was man tun könnte, um diese Viertel, diese Vorstadtghettos befrieden zu können?
Tuil: Ich bin zutiefst humanistisch eingestellt und glaube tatsächlich an eine Vielfalt der Gesellschaft. Ich glaube, dass das unsere stärkste Kraft ist überhaupt, und wie kann es anders sein: Ich bin Tochter von Migranten, und Politik hat für mich heute Modernität zu verkörpern. Also man kann doch nur Leuten glauben oder ihnen folgen bis zu einem gewissen Maß, wenn man Leuten zuspricht, die für moderne Werte stehen, aber auch für die Wertschätzung, den Respekt, vielleicht sogar die Liebe des anderen, auf jeden Fall die Anerkennung.
Ich selber habe vor ein paar Jahren das Buch "Douce France" geschrieben, in dem es um die Immigrationsbehörden geht, also ich schaue in das Innere dieser Ämter, in denen Menschen registriert werden, in denen sie aufgenommen werden oder ausgewiesen und in denen über ihr Schicksal entschieden wird.
Wir brauchen einfach eine generelle, grundlegende Erneuerung der Politik, wir brauchen starke Persönlichkeiten, die ein brüderliches Europa vertreten und dafür kämpfen, für ein Europa, das auch Hoffnungen präsentieren kann, und ein Europa, das Staatslenkern wie Donald Trump und Wladimir Putin entgegentritt.
Gerk: Karine Tuil, welchen Typus der französischen Gesellschaft haben Sie denn als nächstes im Blick für Ihr nächstes Buch?
Tuil: Vor ein paar Monaten habe ich in einer Zeitschrift über Emmanuel Macron geschrieben: Er ist wirklich interessant für Schriftsteller, nicht nur für mich. Ich glaube, das geht auch den anderen so. Sein Lebenslauf ist interessant: Er war Assistent des Philosophen Paul Ricœur, und wenn er politische Reden hält, dann zitiert er eben auch häufig Literatur, Georges Bernanos zum Beispiel oder den Dichter René Char.
Es gibt etwas Romaneskes in seinem bisherigen Lebenslauf, auch dass er mit einer um einiges älteren Frau verheiratet ist, gefällt mir. Ja, ich denke, es wäre wohl Emmanuel Macron, über den ich dann am liebsten schreiben würde, aber auch Christiane Taubira, die ehemalige Justizministerin, ist eine sehr interessante Frau, die oft angegriffen wurde aus rassistischen Gründen. Sie ist sehr gebildet, und das wäre ein Charakter, eine Persönlichkeit, mit der ich mich auch gerne länger beschäftigen würde.
Gerk: Karine Tuil, vielen Dank für dieses Gespräch! Merci beaucoup!
Tuil: Merci.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.