Warum Dionysos in der Kunst Apollon vertrieben hat
Dionysos - der griechische Gott - erscheint plötzlich, steht für Rausch, Lust, Auflösung und Untergang. Literaturtheoretiker Karl Heinz Bohrer folgt seinen Spuren in Kunst, Kunsttheorie, Literatur und Philosophie.
"Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen", schrieb der späte Nietzsche als "ersten Satz meiner Ästhetik", nachdem er zuvor 20 Mal Bizets Oper "Carmen!" gehört hatte. Von der Leichtigkeit und den zarten Füßen scheint es ein weiter Weg zu sein bis zum dunklen, gefährlichen Griechengott Dionysos, dessen Erscheinen mit Rausch und Lust, mit Auflösung und Untergang zu tun hat. Karl Heinz Bohrer aber geht diesen Weg mit leichter Hand.
Über die "Ästhetik des Schreckens" und Ernst Jünger hat er einst promoviert; das Schreckliche und dessen plötzliches Hervorbrechen haben ihn als ästhetische Phänomene stets interessiert. So liegt es nahe, wenn er in seinem neuen, aus Seminaren und Aufsätzen hervorgegangenen Buch noch einmal der Frage nachgeht, warum Dionysos in der Kunst und der Kunsttheorie der Moderne Apollon vertrieben hat. Dabei geht es nicht so sehr um den Mythos als solchen, sondern um dessen Spuren im Denken und in der Kunst – von Hölderlin über Nietzsche bis hin zu Ezra Pound, T.S. Eliot und Paul Valéry.
Die Betonung legt Bohrer weniger auf Dionysos als Figur, als auf den Modus seines "Erscheinens" oder die "Ereignishaftigkeit". Plötzlichkeit, das "Jetzt" als epiphanes, von Grausen und Entsetzen begleitetes Erlebnis, sind demnach die wesentlichen Merkmale des Dionysischen in der Kunst. Bei Hölderlin beobachtet er, wie der dionysische Augenblick als blitzhaftes Ergriffensein mit der künstlerischen Inspiration kurzgeschlossen wird. In so einem "heiligen" Moment gelangt der Dichter über sich hinaus. Der Wahnsinn ("Mania"), der das Erscheinen des Dionysos begleitet, ist die Bedingung des Entstehens der Kunst. Das hat schon Platon in den Dialogen "Phaidros" und "Ion" so gesehen.
Dionysos selbst wurde von den Titanen in Stücke zerrissen
Mit Nietzsche geht Bohrer dann noch einen Schritt weiter. Zu Plötzlichkeit, Rausch und Grausen kommt dann das Zerbrechen des individuellen Ich als entscheidendes Kriterium. Die postmoderne Dekonstruktion des fragmentierten Subjekts ist da schon vorbereitet. Auch dieses Motiv ist im Mythos zu finden: Nicht nur Dionysos selbst wurde von den Titanen in Stücke zerrissen (um wiederaufzuserstehen). Auch seine Gegner wie Pentheus ließ er zerreißen, und Figuren verwandter Mythen wie Orpheus und Aktaion erlitten dasselbe Schicksal.
Weniger überzeugend als die anregenden Interpretationen von Hölderlin und Nietzsche sind die Passagen über die Dichtung der frühen Moderne, in der das Dionysische nur in Spurenelementen nachzuweisen ist. Überzeugender ist dagegen der Hinweis auf die Happenings und Installationen seit den 60er-Jahren, die sich ganz und gar im Augenblick erschöpfen und jeglichen subjektgestützten Werkbegriff ausschließen.
Wenn Bohrer mit der Erkenntnis schließt, dass es ästhetisch folgenreicher sei, dass etwas geschieht, als was geschieht, dann ist das nicht allzu viel. Es bedeutet nicht viel mehr als die Einführung der Zeitlichkeit in die Kunst: weg vom Ewig-Schönen und hin zum Momenthaft-Explosiven. Und auf der Seite des Künstlers: weg vom gestaltenden, genialen Subjekt und hin zum "Wunder" des Berührtseins im Augenblick der Kreativität. Neu ist das alles nicht. Aber es ist ein Erlebnis, Bohrer auf seinen Gängen durch Mythos und Ästhetikgeschichte oder auch nur durch einzelne Gedichte zu begleiten. Mal abgesehen davon, dass "Neuheit" auch bloß eine neuzeitliche ästhetische Kategorie ist, die gegen die Aktualität des Mythos ziemlich alt aussieht.
Karl Heinz Bohrer: "Das Erscheinen des Dionysos. Antike Mythologie und moderne Metapher"
Suhrkamp, Berlin 2015
390 Seiten, 29,95 Euro
Karl Heinz Bohrer: "Das Erscheinen des Dionysos. Antike Mythologie und moderne Metapher"
Suhrkamp, Berlin 2015
390 Seiten, 29,95 Euro