Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie
Suhrkamp Berlin 2017
542 Seiten, 26 Euro
Begegnungen mit dem Fremden
Der Essayist Karl Heinz Bohrer setzt seine Autobiografie bis in die Gegenwart fort: Auch in "Jetzt" zeigt sich eine Faszination für das Unkalkulierbare und Exorbitante. Dem elitären Kosmopoliten begegnet in Deutschland oft etwas Verschwiemelt-Piefiges.
Karl Heinz Bohrers Selbsterkundung hat etwas Atemberaubendes: Als Theoretiker der Plötzlichkeit versteht er sich auf Intensität, überraschende Querschläge und absichtsvolle Brüche. "Jetzt" heißt seine Lebensbeschreibung passenderweise, die einerseits an seine 2012 erschienenen Kindheitserinnerungen "Granatsplitter" anknüpft, seinen beruflichen Werdegang in der Nachkriegszeit nachzeichnet und einen aufregenden Querschnitt durch die bundesrepublikanische Geistesgeschichte liefert, andererseits aber auch ein Journal intime bietet und das eigene Denken und Fühlen analysiert.
Im Außerordentlichen und Fantastischen liegt für Bohrer der Kern des Ästhetischen, und er klagt schon als junger Essayist entgegen der gängigen Paradigmen die Eigenständigkeit dieses Bezirks ein. Ihn treibt das Riskante und Unkalkulierbare um, das Exorbitante. Wie es in der Literatur zum Ausdruck kommen kann, dem spürt Bohrer sein Leben lang nach.
FAZ ersetzte ihn durch Reich-Ranicki
Als Portalfigur tritt "der Philosoph" auf, hinter dem sich Jürgen Habermas verbirgt, mit dem Bohrer eine lebhafte Freundschaft pflegt. Mit ihm kann er die Studentenbewegung ebenso diskutieren wie seine Überlegungen zu Benjamin und zur Ästhetik des Surrealismus. Hochinteressant sind auch die Schilderungen aus dem Arkanum der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo Bohrer als Literaturchef viele Jahre lang Kritik auf höchstem Niveau betreibt.
Ausgerechnet seine theoretische Versiertheit und sein Desinteresse an literarischen Moden führt dazu, dass man ihn schasst und statt seiner den literaturästhetisch ungleich biedereren Marcel Reich-Ranicki einstellt, als "Hofjuden", wie es einer der Herausgeber hinter vorgehaltener Hand zugibt.
Prägnante Alltagsszenen aus dem London der 70er-Jahre, wo Bohrer als Kulturkorrespondent hinbeordert wird, und dem Paris der 80er- und 90er-Jahre, das er mit der Schriftstellerin Undine Gruenter zu seinem Lebensmittelpunkt macht, ergänzen die Tableaus.
Überhöhung des Heroischen
Etliche Feststellungen reizen zum Widerspruch. Bohrers Begeisterung für das Außerordentliche bringt eine gewisse Verachtung für das bundesrepublikanische Gleichmaß mit sich: Allzu oft begegnet dem Kosmopoliten in Deutschland etwas Verschwiemelt-Piefiges, auch wenn "der Philosoph" ihn darauf hinweist, dass Langeweile besser sei als Faschismus. Bohrer konstatiert einen Mangel an Stil, den Zerfall der deutschen Sprache, eine für ihn unerträgliche Neigung zum Konsens. So Recht er im Einzelnen haben mag: Es blitzt etwas Elitistisches durch, eine Überhöhung des Heroischen.
Seiner eigenen Privilegien ist er sich nicht bewusst. Immer wieder sind es Begegnungen mit dem Fremden, die ihn affizieren: als Student in Frankreich, als junger Redakteur in Spanien, als Kulturkorrespondent in England.
Umso problematischer sind die letzten 50 Seiten seiner Autobiografie, die in die Gegenwart reichen. Das Fremde wird jetzt zur Bedrohung, Merkels Flüchtlingspolitik zum Fanal. Das Gespür für die neuen Brüche unserer Zeit geht ihm ab. Hier fehlt Karl Heinz Bohrer der zeitdiagnostische Scharfsinn, der ihn sonst auszeichnet. Stattdessen überwiegt die Saturiertheit des Geistesaristokraten.