Karl-Heinz Göttert: "Als die Natur noch sprach. Mensch, Tier und Pflanze vor der Moderne"
Reclam Verlag, Stuttgart 2019
390 Seiten, 30 Euro
Weltdeutung im Klostergarten
06:36 Minuten
In "Als die Natur noch sprach" zeichnet Karl-Heinz Göttert die vormoderne Naturgeschichtsschreibung nach. Ihm gelingt es, einen faszinierenden Überblick zu geben – trotz seiner zuweilen ermüdenden Detailverliebtheit.
Karl-Heinz Göttert, emeritierter Germanist, Orgelkenner und Verfasser zahlreicher Werke zu unterschiedlichsten Themen, hat sich jetzt vom Naturboom anstecken lassen, der seit einigen Jahren den Buchmarkt bestimmt, mit seinen Förster-Bestsellern, Tierporträts und Öko-Romanen. Als Kenner der Literatur der Antike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit hat Göttert sich auf einen Streifzug durch vergessene Wissenswelten gemacht. "Als die Natur noch sprach" erzählt die Geschichte des Wissens von der Natur vor der Moderne.
Viele der legendären, heute aber nur noch von Spezialisten gelesenen Bücher gingen in die enzyklopädische Breite: etwa die 4000-seitige Naturgeschichte von Plinius, ein Referenzwerk bis ins 19. Jahrhundert, das der antike Verfasser selbst bereits als Kompilation anlegte, für das er 2000 Vorgängerwerke auswertete und zitierte. Solche abgesunkenen Kulturleistungen werden von Göttert mit der Liebe zum kuriosen Detail vergegenwärtigt.
Natur wurde als sinnhaft gedacht
Kennzeichnend für die vormodernen Auffassungen ist, dass die Natur als sinnhaft gedacht wurde. Entweder wie in der Antike ganz auf den Menschen und das ihm Nützliche bezogen oder aber – im Zeichen des Christentums – als großes Buch der Schöpfung, das in jedem Detail von der göttlichen Weltordnung spricht und deshalb weniger einer naturkundlichen Betrachtung als einer religiösen Deutung zu unterziehen ist. Die Natur als "zweite Offenbarung" bietet dem frommen Christen viele Lehren.
Für solche sinnsuchende, moralisierende Art der Naturinterpretation bietet Göttert viele Beispiele aus alten Bestiarien. Warum hat der Pfau so einen langen, prächtigen Schwanz? Es ist ein Hinweis auf das ewige Leben und dessen Herrlichkeit.
Göttert zeigt allerdings auch auf, wie im Windschatten der allegorischen Deutungen das naturkundliche Wissen der Antike bewahrt, überliefert und allmählich erweitert wurde. Etwa wenn der Bischof und Universalgelehrte Albertus Magnus die Augen des vermeintlich blinden Maulwurfs oder den Honigmagen der Biene entdeckte.
Klostermedizin und Säftelehre
Göttert blättert in alten Kräuterbüchern und medizinischen Kompendien, er sammelt erhabene Irrtümer, abstruse Theorien und verwegene Spekulationen. Es gibt Kapitel über die heute wieder verklärte Klostermedizin des Mittelalters und über die Säftelehre bzw. Humoralpathologie von Hippokrates und Galen, die über zwei Jahrtausende die medizinische Theorie und Praxis bestimmte – eine zwar irrige, aber hochkomplexe Systematik des menschlichen Körpers und der Temperamente.
Immerhin brachte die Humoralpathologie eine neue, magiefreie Denkweise gegenüber den archaischen Auffassungen. Diese erklärten die Befindlichkeiten und Krankheiten des Menschen ganz aus dem Wirken von Göttern, Geistern oder Dämonen.
"Kann man mit Begeisterung schildern, was letztlich falsch ist?" - fragt Göttert in der Einleitung. Kann man so etwas mit Begeisterung lesen – das ist eher die Frage. Tatsächlich wird der Leidensdruck durch das "Falsche" irgendwann hoch, und es weht einen so etwas wie die Heimatluft der modernen Wissenschaft an, wenn das Buch gegen Ende bei Galilei ankommt.
Sammelsurium und Kuriositätenkabinett
Oder bei Paracelsus, der wichtige Anstöße zur Beobachtungswissenschaft gab. Den heiligen Aristoteles nannte er "Narristoteles", die Humoralpathologie war für ihn "Schelmenwerk" und eine einzige "Beschissgrube".
Auf Dauer wird Götterts Buch den besprochenen Werken immer ähnlicher: eine Kompilation, ein Sammelsurium, ein Kuriositätenkabinett. Aber auch wenn man manche allzu detailfreudige Ausführung überblättert, bekommt man einen faszinierenden Panoramablick über 2000 Jahre Naturgeschichtsschreibung.