Karl-Heinz Kohl: „Neun Stämme“

Wie die Welt der Indigenen die Moderne geprägt hat

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Buchcover:  Karl-Heinz Kohl: „Neun Stämme“
© C. H. Beck

Karl-Heinz Kohl

Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der ModerneC. H. Beck, München 2024

312 Seiten

32,00 Euro

Von Ingo Arend · 17.07.2024
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Im Buch „Neun Stämme“ zeigt der Ethnologe Karl-Heinz Kohl, wie indigenes Gedankengut die Philosophie und Kultur der Moderne beeinflusst hat. Zeitgenössische Diskurse kommen dabei allerdings zu kurz.
„Unter dem Pflaster liegt der Strand“: Mit dem berühmten Sponti-Slogan übertitelte der Ethnologe Hans-Peter Duerr 1973 sein Nachwort zu einer Neuauflage der „Reden über den Papalagi“. Die angeblichen Reden des Südseehäuptlings Tuiavii avancierten damals zu einem Kultbuch der 1968er-Kulturrevolution.

Keine entgegengesetzten Welten

Gemeinhin gelten die Moderne und die Kultur der Indigenen als entgegengesetzte Welten. Duerrs (später widerrufene) Eloge ist eines der vielen Beispiele, mit denen der emeritierte Ethnologe Karl-Heinz Kohl zu beweisen sucht, dass diese Pole in Wahrheit durch höchst „komplexe Kulturtransfers“ miteinander verbunden seien.
Die von den frühen europäischen Ethnologen kolportierten, kannibalistischen Sitten der brasilianischen Tupinambá etwa schlugen sich in der kulturrevolutionären Bewegung des Anthropophagismus nieder, die die Einverleibung des anderen als kreativen Akt und Umwertung aller Werte sieht.

Die Basisdemokratie der Irokesen

Die matriarchale Gesellschaftsordnung der Irokesen beeinflusste, so Kohl, nicht nur Denker wie Friedrich Engels, sondern inspirierte wegen ihrer basisdemokratischen Rätestruktur mit Benjamin Franklin gar einen der Mitautoren der US-Verfassung.
Für Kohl verdankt die französische Philosophie wesentliche Impulse der Begegnung mit den Indigenen. Den „Geist des Strukturalismus“ destillierte Claude Lévi-Strauss aus seinen Forschungen zu den brasilianischen Bororo, den des Poststrukturalismus leiteten Deleuze, Derrida und Baudrillard aus der Potlatch-Gabenökonomie der kanadischen First Nation Kwakiutl ab.
Souverän führt Kohl bei seinen insgesamt neun Fallbeispielen die wissenschaftliche Literatur ins Feld, spürt noch der sanftesten Resonanz indigenen Gedankenguts und Brauchtums in Literatur und Kunst der Moderne nach. Umso unbefriedigender bleibt es, dass er in seiner Zusammenstellung keine kritische Conclusio zieht. Zeitgenössische Diskurse wie den um die „kulturelle Aneignung“ diskutiert er nur am Rande – etwa, wenn er am Beispiel der Hopi in Arizona konstatiert, dass sie die Naturgeister darstellenden Kachina-Puppen, deren Rückgabe sie heute fordern, extra selbst an Touristen verkauft hätten.

Kreative Form der Weltaneignung

Kohl unterstreicht, dass die Erforschung und Beschreibung der indigenen Völker vor allem der „Selbstlegitimation ihrer europäischen Entdecker und Eroberer“ gedient haben, stellt aber seine These von der „kreativen Form der Weltaneignung“ – auf beiden Seiten – in den Vordergrund. Die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung der australischen Ureinwohner beim Kampf um die Restitution ihres materiellen Kulturerbes etwa verdankten sich nicht zuletzt der Aneignung der sozialen Medien wie auch den vorhandenen Dokumentationen durch europäische Ethnologen.

Bereitschaft zur Auslöschung des Fremden

Etwas auf der Strecke bei Kohls materialreicher, überaus lesenswerter und flüssig geschriebener Darstellung bleibt dabei das Machtgefälle, unter dem sich dieser „komplexe“ Austausch vollzog. Wie blutig dieser war, das streift er oft nur – von der Ausrottung der Indigenen in Lateinamerika durch die spanischen Konquistadoren bis zum Völkermord an den Tasmaniern durch die Briten im 19. Jahrhundert. Zu den „Wurzeln“ der Moderne gehört neben der Faszination für das Fremde eben auch die Bereitschaft zu dessen Auslöschung.
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