Karl-Heinz Ott: "Verfluchte Neuzeit"
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Wenn Denkern das Selberdenken ein Grauen ist
Karl-Heinz Ott
Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären DenkensHanser, München 2022430 Seiten
26,00 Euro
Karl-Heinz Ott macht auf aktuelle Quellen reaktionären Denkens aufmerksam, für die die „Neuzeit“ an sich das Übel ist. So zeigt der Essayist die Entstehung einer antiaufklärerischen Weltsicht, die nicht zuletzt Donald Trump an die Macht verhalf.
Der Zeitgeist war lange links, aber seit geraumer Zeit hat sich das verändert. Worin liegt die offenkundige Aktualität sich selbst stolz „reaktionär“ und „rechts“ nennender Ideologien? Karl-Heinz Ott unternimmt zur Beantwortung dieser Frage überraschende historische Erkundungen.
Bei ihm stehen nicht etwa die Französische Revolution und ihre reaktionäre Gegenbewegung im Vordergrund: Da er von der unmittelbaren Gegenwart ausgeht, untersucht er vor allem die Stichwortgeber populistischer und rechter Politiker in den USA oder in Polen und macht auf Thinktanks aufmerksam, deren Bezugspunkt das „Übel der Neuzeit“ an sich ist: Das sind dabei ganz explizit das Selberdenken des Subjekts bei Descartes oder die Aufklärung Kants.
Gegen das „demokratische Chaos“ vorgehen
Eine zentrale Rolle in Otts keineswegs akademisch spröder Untersuchung spielt der in Europa kaum bekannte US-Philosoph Leo Strauss.
Dieser prangert die Auflösung überlieferter Ordnungen an, das Ende von Religion und Führertum. Der Westen befinde sich seit Luther und Descartes in einer Dekadenzphase mit dem Wirrwarr unterschiedlichster Stimmen. Zum ersten Mal konnte man Strauss als einflussreichen Spindoktor wahrnehmen, als George W. Bush den Irak-Krieg führte. In seinem Regierungsapparat hatten sich etliche Straussianer etabliert.
Zum Philosophieverständnis des 1973 gestorbenen Strauss gehörte das Netzwerken im Hintergrund. Er arbeitete strategisch an der akademischen Etablierung seiner Schule.
Es ist ein großes Verdienst von Otts Buch, die Diskurse hinter dem Aufstieg von Donald Trump nachzuzeichnen und klar zu machen, wie ernst sie zu nehmen sind.
Das zieht sich mittlerweile bis hin zu Politik-Protagonisten wie dem führenden polnischen Europaparlamentarier Ryszard Legurko oder der Tatsache, dass Leo Strauss und dessen Bündnispartner Carl Schmitt heute in China als die wichtigsten politischen Denker des Westens gelten. Sie lehren nämlich, wie man gegen das demokratische „Chaos“ vorgeht.
Eine Welt ohne absolute Autoritäten
Descartes‘ markante Abwendung von gottgefügten Ordnungen, mit dem berühmten Satz „Ich denke, also bin ich“, wird in diesem Buch vielfach abgeklopft. Die Sympathien Otts gelten unverkennbar den Strömungen, die die Defizite der Aufklärung, ihre berühmte „Dialektik“, von Anfang an benannten, ohne dabei reaktionär werden zu müssen.
Es kann durchaus eine Überforderung sein, mit der Welt zurechtzukommen, wenn Gott und Kaiser nicht mehr als absolute Autoritäten gelten. Aber Ott hält es dann eher mit Hegel, der über den Einzelnen in seinem neuzeitlichen Ausgesetztsein sagte: „Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.“
Der Trauer der Dichter, ihrem Benennen der Defizite, die die Moderne mit sich bringt, gewinnt Ott suggestive Interpretationen ab, etwa bei Baudelaire. Unmissverständlich stellt er aber klar, wie prekär es wird, wenn das Leiden an der Gegenwart in totalitäre Denksysteme mündet.
Volte zu Chateaubriand und Voltaire
Umso souveräner ist es, wie der Autor sein leichthändiges und dabei tiefgründiges Buch ausklingen lässt: mit einer Hommage an den unbeugsamen und sinnlichen François-René de Chateaubriand, der weder Revolutionär noch Reaktionär war; und einer letzten, kurzen Anekdote über den Aufklärer Voltaire, der jähzornig wird, wenn er im Schachspiel verliert, aber schließlich doch dazu fähig ist, dem Gegner seinen Sieg zu verzeihen. Daran kann man sich halten.