Karl Jaspers im Interview (1960)

"Philosophie hat kein Ergebnis"

40:15 Minuten
Der Philosoph Karl Jaspers in seinem Haus in Basel vor seiner Bibliothek, 1956.
Für Karl Jaspers folgt Geschichte keinen logischen Notwendigkeiten - und selbst wenn, könnte der Mensch sie nicht erkennen. © picture alliance / Imagno / Franz Hubmann
Karl Jaspers im Gespräch mit Thilo Koch |
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Philosophie als Meditation: In einem Radiointerview von 1960 beschreibt der Philosoph Karl Jaspers die Grundzüge seines philosophischen Denkens und stellt sie dem Marxismus gegenüber. Dessen Bild von wissenschaftlicher Philosophie hält er für falsch.
Der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers (1883–1969) war nicht nur einer der bedeutendsten Vertreter der deutschen Existenzphilosophie, sondern auch einer der führenden öffentlichen Intellektuellen der jungen Bundesrepublik.
Immer wieder äußerte sich Jaspers in Radio- und Fernsehauftritten zu Themen der Zeit: Wider den vorherrschenden Geist der Verdrängung der deutschen Schuld sprach er sich für eine Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus aus, er plädierte früh dafür, die Existenz der DDR als zweiten deutschen Staat zu akzeptieren und er wandte sich kritisch gegen die Notstandsgesetzgebung der 1960er-Jahre.

Es gibt keine historische Notwendigkeit

In einem von Thilo Koch geführten Radiointerview des NDR aus dem Jahr 1960 entwirft Jaspers noch einmal die Grundlinien seines philosophischen Denkens und stellt sich der Frage, was Philosophie heute leisten kann. In diesem Zusammenhang setzt sich Jaspers auch ausführlich mit der Philosophie von Karl Marx auseinander, die in gewisser Weise ein Gegenbild zu seinem eigenen philosophischen Weltbild darstellt.
Dabei äußert Jaspers auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges zunächst hohe Wertschätzung für Marx: "Das Studium der Schriften von Marx ist ein geistiger Genuss ersten Ranges, weil der Mann so scharfsinnig, so konsequent, so anschaulich denkt und schreibt."
Vor allem würdigt Jaspers den mit Marx verbundenen großen Schritt an historischer Erkenntnis: "Vor ihm hat niemand in diesem Umfang und mit dieser Intensität die wirtschaftlichen und die aus dem Wirtschaftlichen folgenden soziologischen Tatsachen dargestellt."
Kritisch sieht er hingegen das Geschichtsbild, das Marx vertritt. Denn für Jaspers als Existenzphilosophen gibt es nichts, was notwendigerweise geschieht:
"Wir können das, was geschehen ist, nicht als notwendig erkennen, so wenig, wie wir die Zukunft als notwendig kommend, ansehen können", betont er. "Denn was in der Vergangenheit geschah, hat immer seine Ursprünge auch in menschlichen Handlungen, und diese menschlichen Handlungen beruhen irgendwo auf Freiheit."
An die Marxisten gewandt sagt Jaspers: "Es ist ein Kennzeichen des Fanatismus, dass man meint, die Geschichte zu kennen, das Zeitalter zu kennen und nunmehr zu wissen, wie es weitergehen muss und das Soll daraus entnimmt, dass ich ja weiß, wie es geschehen muss, und wenn ich mit dem, was sein muss, mit der Notwendigkeit mit gehe, bin ich im Fortschritt, bin ich dabei, gehöre ich dazu."

"Die Marxisten haben enorm wenig Neues entdeckt"

Etwas von diesem Fanatismus schimmert für Jaspers auch schon bei Marx durch, der Tatsachen, die gegen seine Geschichtsdeutung sprächen, einfach ignoriert habe. "Aber Marx ist immer noch frei", denn dieser sei, wie er selbst gesagt habe, kein Marxist gewesenen. "Die nach ihm Kommenden sind Marxisten, sie haben in der Tat enorm wenig Neues entdeckt."
Karl Jaspers (1883-1969) bei der Verleihung des Friedenspreises auf der Frankfurter Buchmesse 1958. Vorderste Reihe v.l.n.r.: Frankfurter Oberbürgermeister Bockelmann, Frau Jaspers, Karl Jaspers, Bundespräsident Heuss, Hannah Arendt. 25.9.1958.
Als "klaren und unbestechlichen Denker unserer Zeit" würdigte die Jury Karl Jaspers bei der Verleihung des Friedenspreises 1958.© picture alliance / akg images
Dem marxistischen Anspruch einer wissenschaftlichen Philosophie setzt Jaspers ein anderes Verständnis entgegen. "In der Philosophie wird kein Resultat erzielt. Da spricht man und denkt man, und dieses Denken als solches bereitet einen Boden oder pflügt einen Boden um und macht etwas möglich", betont er. "Aber am Schluss ist kein Denkresultat wie in der Wissenschaft, wo ein Denken ein Resultat hat, ein Ergebnis, hier habe ich kein Ergebnis, sondern hier schaffe ich die Voraussetzungen dafür, dass das möglich wird, wovon ich dann in solchen Wendungen, wie ich es eben tat, reden kann."

Sich in der Kontinuität eines Lebens verwirklichen

Seine eigenen philosophischen Schriften bezeichnet Jaspers als Meditationen: "Diese Schriften wollen meditierend in dem Leser, der mitmeditiert, eine Verfassung zum Bewusstsein bringen, die er von vornherein schon mitbringt, nur nicht klar. Eine Verfassung, die es ihm ermöglicht, in den konkreten Situationen sich in der Kontinuität eines Lebens zu verwirklichen."
Mehr ist Jaspers zufolge nicht möglich, denn er zweifelt, ob ein Mensch wirklich einen kompletten Lebensentwurf haben kann:
"Er macht sich jeweils Pläne, aber einen Lebensentwurf im Ganzen – würde ich von mir wenigstens sagen – habe ich nie gehabt." Auch wenn es im Nachhinein oft so scheine, als seien die Dinge einem Plan gefolgt:
"Man kann fast sagen, es ist das Geschick des Menschen, wie weit ihm, wenn er rückblickt, was geschehen ist und was er getan hat, sich ihm fügt, als ob ein Sinn darin wäre, als ob eine Kontinuität wäre."
(uko)
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