"Das Gebet um einen guten Tod ist für mich wichtiger geworden"
Karl Kardinal Lehmann, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, feiert am Pfingstmontag seinen 80. Geburtstag. Im Gespräch erinnert er sich an innerkirchliche Auseinandersetzungen, reflektiert über soziale Fragen und meint, dass man bei der Reform der Kirche nicht allein auf den Papst setzen könne.
Philipp Gessler: Es gab zumindest über viele Jahre den Eindruck, dass die katholische Kirche in Deutschland ja fast gespalten ist. Da gibt es den Lehmann-Flügel, und da gibt es den Meisner-Flügel, und die haben sich so ein bisschen ineinander verkämpft. War das nur der Blick von außen oder war da was dran, dass sozusagen sich zwei Flügel im Grunde gegenseitig lange Jahre blockiert haben?
Kardinal Lehmann: Also, ich habe es ehrlich gesagt in dieser Zuspitzung nicht erfahren. Ich habe mehr Probleme gehabt mit Johannes Dyba, weil der hat sozusagen eine steile Kirchenpolitik gehabt, er war auch nicht sehr bereit ab- und zuzugeben. Er hat ja auch in Rom seine Leute sitzen. Da war er auch gut vernetzt und so weiter.
Gessler: Kardinal Meisner auch.
Lehmann: Ja, habe ich aber nicht so empfunden. Ich habe eigentlich immer erlebt, dass ich ihm sagen konnte 'Joachim, wenn du das und das erreichen willst, kann man nicht miteinander mal reden, dass es da verschiedene Wege gibt ...' Auf dem Weg hat man oft einen Kompromiss gefunden. Oder ich habe nicht zu selten erlebt, dass er auch sagt, damit kann ich auch leben. Da habe ich eigentlich gar keine so großen Schwierigkeiten gehabt, weil im Grunde seines Herzens ist er ein Seelsorger, und wenn er doktrinär oder so etwas konservativer ist, dann in diesem Interesse. Er hat keine anderen Interessen gehabt, glaube ich.
Gessler: Ich würde gerne noch mal, wie angekündigt, über "Rerum Novarum" sprechen. Sie gelten ja mit Ihren öffentlichen Äußerungen, auch mit Ihrer Herkunft aus der alten Bundesrepublik als einer der großen Vertreter der sozialen Marktwirtschaft. Haben Sie jetzt den Eindruck, dass sich da etwas gewandelt hat in Deutschland, dass das Kapital, um es mal ein bisschen ökonomisch zu sagen, doch immer mehr Einfluss hat und stärker geworden ist und die soziale Marktwirtschaft etwas in den Hintergrund geraten ist?
"Die soziale Marktwirtschaft ist eine Vereinigung von Gegensätzen"
Lehmann: Also die soziale Marktwirtschaft ist nicht einfach ein fertiges System, das man irgendwo importiert und draufsetzt und dann klappt das. Da müssen viele Voraussetzungen in Haltungen, Einschätzungen müssen da sein, denn eigentlich ist zweitens soziale Marktwirtschaft ja so etwas wie zunächst mal die Vereinigung von Gegensätzen. Da ist Macht und Freiheit auf der einen Seite, und Rücksicht auf die, die nicht davon positiv betroffenen sind, und diese Synthese, die muss auch immer mal wieder ausgeglichen werden. Die Balance ist nichts Naturwüchsiges.
Das, glaube ich, sieht man bei den Vätern, wie die vorausgesetzt auch haben, dass Kategorien wie Solidarität, Kategorien wie, dass man in einer deutlichen Form auch weiß, was zum Beispiel Arbeitnehmer zum Fortschritt beitragen und dass man dafür immer wieder auch ein Ohr hat. Das kann man bei denen lernen. Das Demokratie, dazu gehört, dass soziale Marktwirtschaft funktioniert.
Gessler: Haben Sie denn den Eindruck, dass da etwas die Balance verloren gegangen ist?
Lehmann: Ich sehe in einem die ganz konkrete Wirtschaft des Alltags, wie das so ist, aber wenn ich mir betrachte, wie bei uns sich die Einkommen und die Löhne und arm und reich sich gestaltet hat im Lauf der Jahre, ob es ein Reichtumsbericht oder Armutsbericht sind, es führt kein Weg daran vorbei, dass da Ungewicht dazwischen ist, das nicht vorhandene Gleichgewicht immer größer geworden ist und dass man da – wenn man da auch mal die Gehaltsebene anschaut, wenn man jetzt den Streit um die Boni bei VW betrachtet zum Beispiel, aber auch in der Deutschen Bank –, dann hat man schon den Eindruck, dass da etwas aus den Fugen geraten ist, und zwar einfach dadurch, dass bei den Betreffenden die Mentalität irgendwo etwas Entscheidendes verloren hat, was zum Funktionieren von sozialer Marktwirtschaft gehört.
Gessler: Was meinen Sie direkt? Welche Mentalität? Also, dass man an das Sozialwohl denkt?
Lehmann: Zum Beispiel, ja. Also ich meine, da darf man sich ja nicht wundern, dass da große Spannungen entstehen, wenn die Differenzen so sind. Das ist ja evident, dass da was aus den Fugen geraten ist, und die Versuche einer Reform einer sozialen Marktwirtschaft und extra einen Verband dafür zu gründen, ist anerkennenswert, aber wenn ich die Einstellung der Leute nicht ändere, dann werde ich auch das System nicht ändern.
Gessler: Ich will kurz noch mal auf die Kirche an sich kommen, auf die katholische Kirche hier. Der Papst Franziskus hat ja einen neuen Schwung in die katholische Weltkirche gebracht. Sind Sie denn zufrieden, wie diese Bewegung hier in Deutschland aufgenommen wird oder hätten Sie sich da eigentlich mehr erwartet, dass dann dieser Schwung aus Rom auch hier die deutsche Kirche mehr in Bewegung bringt?
Lehmann: Also, ich kann bei uns keine Opposition oder so etwas finden. Die wäre zumindest sehr schwach, wenn eine solche existieren würde. Dass man nicht mit allem einverstanden ist oder da und dort etwas ergänzungsbedürftig sieht, das gehört, glaube ich, in so einer großen Gemeinschaft schon – von 1,2 Milliarden Menschen in aller Welt –, das gehört auch dazu.
Gessler: Also zum Beispiel bei einem wiederverheirateten Geschiedenen, da hätten Sie sich ein bisschen mehr Bewegung gewünscht?
Lehmann: Also ich habe Sorge, dass dieses Schreiben jetzt auch natürlich mit dem beträchtlichen Umfang von 200 Seiten nach dem ersten Interesse schnell wieder etwas untergeht. Das darf nicht geschehen. Ich will mich da also auch einsetzen, so gut es also irgendwie nur geht, aber es ist zum Umsetzen ein gewaltiges Stück Arbeit, bis das, was auch im Umdenken, wie man an die Dinge herangeht und die Beteiligung auch der Betroffenen, bis das alles in den Köpfen ist und funktioniert, auch in der Ausbildung und Fortbildung, wird das ein langer Weg sein. Da hat er ja eine Arbeitsteilung sozusagen, die mit dem klassischen Verständnis vom Lehramt eher etwas in Spannung steht. Er sagt, ich bin Seelsorger, ich rede als Seelsorger, die Theologen müssen das andere machen, während also der klassische Begriff vom Lehramt natürlich immer die Theologie strikt mit einbezogen hat, auch im Detail, das überlässt er sozusagen anderen, das kann ein bisschen für Spannungen ausgenützt werden.
Gessler: Gibt es nicht da auch eine gewisse Freiheit sowohl für den einzelnen Seelsorger, etwa bei der Frage wiederverheirateten Geschiedenen, als auch mehr Freiheit für die einzelnen nationalen Bischofskonferenzen? Sehen Sie da mehr Möglichkeit der Bewegung?
"Man soll nicht mehr alles vom Papst erwarten"
Lehmann: Also, das sind zwei Fragen. Das letzte, was Sie aufgegriffen haben, das ist vermutlich schon ein Strukturelement auch in seinem künftigen Handeln. Er hat ja beim fünfzigjährigen Jubiläum der Einführung der Bischofssynode, die schon während des Konzils geschehen ist – deswegen waren es 50 Jahre im vergangenen Oktober –, und das hat er dazu benutzt, um während der Bischofssynode eine sehr wichtige Rede zu halten über die Unentbehrlichkeit des synodalen Elementes. Er hat auch wörtlich gesagt, die Kirche ist synodal. Das hätte man vor Jahrzehnten nicht erwartet, dass das also ein katholischer Bischof, Papst sagt. Das ist das eine. Da kommt aber drauf an, dass das von den Teilkirchen eingelöst wird. Das soll man nicht mehr alles vom Papst erwarten. Das wäre falsch, einen Antrag stellen, mit dem Papst in Verbindung bleiben und dann mal gucken, ob es nicht eine Form von Synode gibt, die für ihre Kontinente oder Halbkontinente oder so etwas doch vielleicht mal experimentell einiges gewährt bekommt, was nicht überall gemacht werden muss zu gleicher Zeit.
Gessler: Also so könnte die Deutsche Bischofskonferenz sagen, wir packen jetzt für unsere Nation, oder für die deutschsprachigen Länder packen wir jetzt das Problem der wiederverheirateten Geschiedenen an, finden da eine Lösung. Und was ansonsten die anderen nationalen Bischofskonferenzen auf der Welt machen, das ist denen anheim gegeben.
Lehmann: Ich könnte mir vorstellen, dass das auch eine deutschsprachige Synode macht, wo Österreich und die Schweiz mit dabei sind, vielleicht sogar Skandinavien. Also ich glaube schon, dass er zunächst mal das Instrument bietet, aber wenn wir nicht Vorschläge machen, wenn wir nicht ihn bitten, das zu erlauben, dann hat das keine Zukunft. Dafür wäre dann also auch die Spaltung, die in den Kirchen und Bischofskonferenzen entsteht, also zu schwierig und zu gefährlich. Manchmal hört man ja von ihm, dass er sagt, die Bischöfe sollen das mal beantragen. Ich glaube, man sollte da sogar vielleicht mit kleinen Einheiten rechnen und nicht gleich mit ganzen Ländern und so fort oder Kontinenten. Jetzt müssen wir uns einigen, was wir wollen und noch mal dafür dann auch bitten, wie das auch bei der Synode war.
Gessler: Jetzt hat der Papst ja bei dem Ad-limina-Besuch kurz vor Weihnachten eine doch relativ harte Analyse der Situation der katholischen Kirche in Deutschland gegeben. Er hat da unter anderem gesprochen von der Erosion des katholischen Glaubens in Deutschland. Finden Sie, er hat recht?
Lehmann: Also da ist Mehrfaches zu sagen. Erstens, er hat das gar nicht vorgelesen. Er hat es nur ausgeteilt. Wenn man das mal genauer liest, was steht denn da drin. Da stehen Dinge drin, die wir uns selber sagen, dass es einen überaus starken Rückgang des Gottesdienstbesuchs gegeben hat und das beklagt wird, und was Sie gesagt haben vorher und andere Dinge. Wir gehen ja nicht nach Rom, um uns da nur Lob abzuholen oder uns selber zu belobigen. Beim ersten Lesen habe ich das überhaupt nicht in irgendeiner Weise negativ empfunden. Wir haben auch darüber geredet, und wir greifen manche Dinge da oder dort in Kommissionen auch auf, schon bevor das Papier eigentlich bekannt war.
Gessler: Eine Kritik war – und das erinnert etwas an eine Rede auch von Papst Benedikt, als er damals in Deutschland war –, dieser Glaube zumindest in Rom anscheinend, dass man sagt, diese deutsche Kirche, die ist zu überinstitutionalisiert, zu überorganisiert. Da geht ein bisschen der Schwung des Glaubens verloren. Ist da was dran?
Lehmann: Ich denke, diese Antworten auf solche Fragen, die muss man immer in Bezug setzen zur konkreten Gesellschaft, in der man lebt. Wir brauchen eine stärkere institutionelle Weise in Erscheinung zu treten, weil unserer Gesellschaft eben im Ganzen sehr stark institutionell organisatorisch auftritt.
Wir sind ja auch froh, im Unterschied zu manchen anderen Kirchen, dass wir für viele Fragen Leute und Experten haben, die entsprechend ausgebildet sind, nicht nur in den theoretischen Dingen, da sogar relativ wenig, aber etwa in der sozialen Tätigkeit. Wir könnten in dieser Gesellschaft, bei dieser Differenziertheit, viele Dinge gar nicht tun, wenn wir nicht die entsprechende Beratung haben. Natürlich ist nicht ganz unrichtig, dass man sich vielleicht etwas rasch auf institutionelle Lösungen verlässt und sich selber ein Stück weit dispensiert – man hat ja die Institution sozusagen –, aber das wird auch widerlegt, zum Beispiel durch den unglaublichen Einsatz und die Einsatzbereitschaft von einzelnen Leuten und der Gemeinde in dem ganzen Flüchtlingsdrama. Was nicht institutionell abgesichert ist, ist in einem hohen Maß von einzelnen Leuten und von Gruppen und so fort geleistet.
"Ich schreibe keine Biografie"
Gessler: Wenn Sie jetzt auf diese lange Zeit als Bischof zurückblicken, der älteste amtierende Bischof hier in Deutschland – was ist Ihnen eigentlich gelungen, und was ist Ihnen nicht gelungen?
Lehmann: Also, ich zitiere ganz gerne den vorchristlichen Vorsokratiker Heraklit, dass man nicht zweimal in denselben Fluss einsteigt. Ich frage mich ehrlich gesagt wenig, was mir nicht geglückt ist. Ich habe versucht zu der Stunde, in der die Entscheidung getroffen werden musste, in der man einfach dann vielleicht nicht das Maß von Klarheit und Verteidigungsinteresse der anderen gefunden hat, dass man auch abhängig war von Entscheidungen anderer, dass man da einen echten Kairos verfehlen kann, das ist keine Frage.
Aber dem lange hinterher zu brüten habe ich eigentlich keine Zeit und im Grunde genommen auch kein großes Interesse, weil ich sagen muss: Hic salta, jetzt muss ich hier sozusagen tätig werden. Was man damals hätte vielleicht anders machen können, das weiß ich nicht, aber ich schreibe keine Biografie, wo ich das jedenfalls aufzählen werde. Ich müsste sonst ein sehr genaues Aktenstudium machen auch, weil ja doch jede Entscheidung aus vielen Komponenten besteht, die einem auch im Laufe der Zeit entgehen und die man nicht mehr alle so klar vor sich hat. Natürlich weiß ich, dass ich in der Schwangerenberatung und mit der Frage der Geschiedenen-Pastorale nicht so vorangekommen bin, aber ich bin auch kein Mensch, der weitgehend auf den Augenblick begrenzt denkt. Erstens bin ich jetzt in diesen Wochen ganz glücklich, dass mit dem Schreiben des Papstes vom 19. März über Ehe und Familie, das, was wir etwa damals 1993 mit unserem Oberrhein-Schema erreichen wollten, weil der Kasper und Oskar Saier und ich, dass wir eigentlich da drin viele Elemente finden, die wir damals vorbereitet haben.
Gessler: Darf ich da mal ein anderes Beispiel nehmen, zum Beispiel die Missbrauchsproblematik. Haben Sie da den Eindruck gehabt, da sind die deutschen Bischöfe zu spät sensibel geworden und …?
Manches erfahre ich auch nur aus der Zeitung
Lehmann: Gehen Sie doch mal zuerst auf die Leute zu, die das verbrochen haben. Ich erfahre ja auch unter Umständen aus der Zeitung heraus oder aus irgendwelchen Medien heraus, dass da und dort was passiert ist, habe vorher keine Ahnung. Ich muss gucken, dass das einigermaßen glimpflich für alle Beteiligten, aber streng und objektiv und gerecht, dass man dann entsprechend verfährt, aber ich habe 92, 93, als wir den ersten Fall hatten hier im Bistum, als nächste Konsequenz, außer, dass man den einzelnen Fall angeht, vor allen Dingen also gesucht, dass wir die ersten Regeln aufgestellt haben, wie wir mit solchen Situationen umgehen, vor allen Dingen auch mit den Opfern und haben das dann mithilfe von einigen Experten aus vier verschiedenen Universitäten ausgebaut. Das waren Leute, die sich im Strafrecht und in anderen Dingen sehr intensiv damit beschäftigt haben, von Ulm und von Berlin und Düsseldorf, was heute noch gültig ist. Das ist bearbeitet worden seither, das war auch nötig.
Gessler: Sie sind jetzt 80 Jahre – bereiten Sie sich in irgendeiner Weise auch auf den Tod vor in Meditation oder im Gebet, kommt das vor?
Lehmann: Mich tröstet da ein Wort, das mein Amtspatron, der Heilige Karl Borromäus, der ja leider früh sterben musste bei seinem Umgang mit den Pestkranken, sich angesteckt hat, dann wurde also mal gesagt, was würden Sie tun, wenn Sie noch, weiß nicht was, noch einen Tag oder eine Stunde Zeit haben, wenn Sie sterben. Da haben die Leute weiß Gott was alles erwartet, und was hat er zur Antwort gegeben: Ich würde das, was ich mache, so gut machen, wie ich kann.
Etwas wird mir auch deutlicher, wo man als junger Mensch nicht so ein Verhältnis zu haben kann, dass man das Gebet um einen guten Tod, das ist für mich im Laufe der Jahre wichtiger geworden. Man weiß nicht, in welcher Situation man ist, aber dass man eine ganz besondere Hilfe braucht, eine solche Situation, die man nicht kennt, zu bestehen. Es kommt schon auch drauf an, in welchem Lebensalter man sich mit was beschäftigt, und im Alter soll man sich immer damit beschäftigen, dass unser Leben ein Ende hat, dass wir endlich sind, dass wir kreatürlich sind, was wir oft verdrängen, wir meist so tun, als ob immer alles so weitergeht wie jetzt, schlechte Unendlichkeit, aber es wäre auch falsch, wenn man sich damit zerquält.
Man muss auch im Alter offen und frei reden und auch genießen, was man kann, und wenn man dann das nicht vergisst, dann ist das, glaube ich, dass man auch endlich ist, dann ist man vielleicht auch dann eher bereit, sogar an die Zukunft zu denken, an kommende Generationen, die ihre eigenen Aufgaben haben, von denen wir oft heute noch gar nicht wissen, welche Aufgaben es sind, was für Probleme es sind. Manchmal sehen wir es. Wenn einem in dieser Zeit etwas geschenkt werden kann, was wichtig ist, dann ist es Gelassenheit, die man aber also nicht machen kann, sondern die einem verliehen werden muss.
Glaubt er an ein ewiges Leben? Lehmann zitiert Psalmen
Gessler: Ist denn Ihre Zuversicht, dass es nach dem Tod weitergeht, im Laufe der Jahre eher größer geworden oder eher kleiner?
Lehmann: Größer einerseits, weil ich mich mehr damit beschäftigt habe, weil einem auch natürlicherweise das Ende näher rückte, aber ich habe aus dem Alten Testament auch viel gelernt. Das Alte Testament hat eine lange Periode, wo diese Frage gar nicht vorkommt. Da geht es um ein geglücktes Leben, da geht es um ein sattes Leben, aber auch um die Einsicht, wer so alt geworden ist, wer das alles leisten konnte, da muss man nicht so viel trauern.
Ganz schlimm war der Tod eines jungen Menschen. Das hat man nicht verstanden. Da ist immer wieder ein Protest dagegen, aber dann kommt, wunderbar, auch in den Psalmen zu sehen, die Frage: Bist du auch bei mir, lieber Gott, wenn es mir schlecht geht? Bist du auch bei mir in Krankheit? Warum spüre ich nicht deine Nähe, wenn es meinem Nachbarn, der ein Lump ist, so gut geht und mir so schlecht? Und dann kommt irgendwie die Frage, bist du auch noch im Tod, und die Antwort Gottes etwa im Psalm 73 oder so ist dann: Ich bin immer bei dir.
Das ist die Grundlage, wenn die nicht gelebt wird, wenn die Fragen nicht gelebt werden, dann kann man auch keine Antwort erwarten. Also, da hört die Dogmatik auf, da kommt es drauf an, dass man das auch existentiell durch Beten, Nachdenken und Meditieren dann auch erfährt, dass Gott aus der Verborgenheit heraus zu jedem auch sagt 'Ich bin immer bei dir' und dass das eben dann sich auch bewährt. Wie das dann ist, da kann man alles Mögliche konstruieren und fabrizieren und spekulieren und so fort. Ehrlich gesagt auch als Theologe interessiert mich das einzelne Wie und dass ich doch nicht viel weiß, nicht so sehr, sondern die grundlegende Antwort, die auch schon ein dialogisches Element hat, wenn man mit Gott spricht und auch Gott fragt und er dann zu einem schon auch vernehmlich sagen muss und dass man das auch hört und hören kann: Ich bin immer bei dir.
Gessler: Vielen Dank!
Lehmann: So, das war die Katechese-Antwort. Sie können's auch untheologisch haben, wenn zum Beispiel so ein Dichter wie Paul Celan in einem großen Gedicht "Atemkristall" am Ende den Vers hat: "Es gibt auch noch Lieder zu singen jenseits der Menschen."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.