Karl Kollmann: "Die neuen Biedermenschen"
Von der 68er-Rebellion zum linksliberalen Establishment
Promedia Verlag, 2020, 208 Seiten, 19,90 Euro
Linke Selbstkritik auf Abwegen
07:59 Minuten
Der 2019 verstorbene österreichische Sozialwissenschaftler Karl Kollmann ging in seinem letzten Buch mit seiner Generation scharf ins Gericht. Pieke Biermann begrüßt den Vorsatz – ist aber von der unscharfen und wenig ironischen Ausführung enttäuscht.
Ha, darauf freut man sich: Da knöpft sich einer die eigene Generation vor, also deren Weg vom jugendlichen Rebellen zum etablierten Midlifer. Über das neue Biedermeier wurde ja seit der Wende immer wieder gern gespottet – jetzt also Spottlight an: auf "die neuen Biedermenschen". Und zwar von Österreich aus, der Heimat der grandios-bösen Kabarettisten und Karikaturisten!
Auch wenn man diesen Autor jetzt nicht so kennt – ein kurzer Surf durchs Netz verspricht einen "Intellektuellen von Format", bei dem "auch insbesondere seine intensive Auseinandersetzung mit der Sprache hervorzuheben" sei. Promovierter Soziologe, habilitierter Ökonom, Konsumkritiker, Akademiker, Aktivist, Publizist bei Telepolis, Die Presse und The European, ganz früher bei den westdeutschen Bukowski-Ginsberg-Burroughs-Undergrund-Fans. Und irgendwie Berufspessimist. Wir Piefkes freuen uns da auf eine schön spitze Feder, womöglich gar "an feinan Schmäh".
Versandung im unscharfen Denken
Und tatsächlich, Karl Kollmann möchte, schreibt er gleich vorn, die Jahrzehnte "immer mit Bezug auf die Alltagsgeschichte durchtanzen", "auf wissenschaftlicher Basis", aber ohne unelegante "deutsche Pseudogründlichkeit". Er hält es mit Georg Simmel und die Fußnoten knapp. Sich selbst sieht er als "sozialen Grenzgänger", der deshalb die "Chance des kühlen und scharfen Blicks" hat und also die Pflicht "zum kritischen, nüchternen und verständlichen Wort […], auch auf die Gefahr hin, sich durch klare Ausdrücke unbeliebt zu machen, es sich mit dem Mainstream zu verscherzen."
In dreizehn Kapiteln geht es dann um jene neuen Biedermenschen, die komischerweise nie Spießer genannt werden, sondern mal Postmaterialisten, mal Juste Milieu, mal links-liberal-multikulti-urbane und politisch-kulturell hegemoniale Mittelschicht. Na gut, für einen gelernten Soziologen klingt das ein klein wenig unscharf. Aber dann flattert sein Blick ebenso zwanglos hin und her zwischen Deutschland, Österreich, Mitteleuropa und "den nord-westlichen Zentralräumen dieser Welt".
Karikaturen ohne ironische Brechung
Und mit der Eleganz der Sprache ist es leider auch nichts. Da "bricht sich die kulturelle Trasse der 68er-Bewegung Bahn", und die Online-Jugendausgaben deutscher Mainstream-Medien "strotzen mit relotiusartiger, einseitiger Schönzeichnerei". Hauptsache die These ist alpinistisch steil, da muss das Sprachliche zurücktreten. "Die Gesellschaft bleibt ein großes Internierungslager", weiß er, ahnt "Missverständnisse" und bleibt selbst tapfer: "Vielfach traut man sich als gelernter Mitteleuropäer so etwas in Anbetracht des grauenhaften Massakers von Auschwitz nicht mal zu denken, schon gar nicht auszusprechen".
Wenn man da im Text erstmal angekommen ist, wundert man sich über gar nichts mehr, ärgert sich kaum noch über falsche Kommata und jäh in indikativischer Gedankenprosa aufploppende Konjunktive, amüsiert sich kurz über die parallelen Schieflagen bei grammatischen und beim real-historischen Tempusangaben – die Ölpreiskrise von 1973 sei das "Zündmittel der späteren Ökologiebewegung", als hätte es Anti-Atom-, Friedens-, Frauen- Umweltschutzbewegung nie gegeben; Polygamie oder Polyamorie sind "gänzlich neue Lebensformen" und Bulgur und Couscous sind nicht tausende Jahre alt und Grieß, sondern "neue angesagte Getreide"; oder die Genrebildchen der "neuen Mittelschicht", Karikaturen ohne jede ironische Brechung, die heute an keinem Stammtisch bestehen könnten – und fragt sich, warum man sich die ganze Lektüre angetan hat.
Bei der "Schuldkultur" hört der Spaß auf
Eigentlich stand das erste Warnschild ja schon auf Seite 19, wo Kollmann zum ersten Mal eine "von den Siegermächten indoktrinierte Schuldkultur" beschwört: "Deutsche (und vielleicht weniger ausgeprägt Österreicher) müssen sich bis in die Gegenwart für Adolf Hitler und den Nationalsozialismus und das für immer schuldhaft fühlen. Für den deutschen und den österreichischen Kaiser, die 55 Jahre zuvor Millionen Menschen kriegstechnisch ermorden haben lassen, gilt dies bei weitem nicht in dieser Strenge."
"Schuldkultur" – das hört man heute als Deutsche und womöglich sogar als weniger ausgeprägte Österreicher einfach mit – ist nur zwei Buchstaben entfernt vom höckrigen Schuldkult-Geschwätz. Und gegen den Missklang schützt keine noch so unverdächtige Fußnoten-Phalanx von Zygmunt Baumann bis Eva Illouz, Pierre Bourdieu bis Heinz Bude. Zumal der Großteil der 158 Fußnoten auf den 200 Seiten auch noch Eigenverweise sind. Auch ein Weg ins Establishment.