Karl-Markus Gauß: "Die Jahreszeiten der Ewigkeit"

Weltsicht eines traditionsbewussten Linken

36:03 Minuten
Cover des Buches "Die Jahreszeiten der Ewigkeit" von Karl-Markus Gauß. Auf grauem Untergrund ist eine Uhr zu sehen.
© Hanser Literaturverlage

Karl-Markus Gauß

Die Jahreszeiten der Ewigkeit. JournalZsolnay, Wien 2022

320 Seiten

25,00 Euro

Von Jörg Magenau |
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Am 16. März bekommt Karl-Markus Gauß den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Sein neues Buch zeigt, warum: Der österreichische Autor ist ein kluger Beobachter unserer pluralen Gegenwart, ein unpathetischer Verfechter Europas.
Genau fünf Jahre lang, von seinem 60. Geburtstag im Mai 2014 bis zum Mai 2019, wollte Karl-Markus Gauß Tagebuch führen und alles notieren, was ihm auffiel und was ihm begegnete. 2020 zog er sich dann zurück und baute aus den Notizen das Journal, das jetzt als „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ erschienen ist. Während andere begannen, ihr Corona-Tagebuch zu schreiben, kam es ihm nicht darauf an, die „gegenwärtige Gegenwart“ mitzuschreiben. Vielmehr diente das Journal dazu, Weltsichten zu erproben und sich selbst in der Welt zu entwerfen, in der alle Dinge, auch das eigene Ich, vergänglich sind.

Ein schriftliches Selbstbild entsteht

Wie jedes Tagebuch ist auch dieses thematisch geordnete Journal zu einem guten Teil Selbstinszenierung und nicht ganz uneitel. Doch Gauß weiß sehr genau, was er tut, wenn er schreibt: „Ich bin nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis meines Schreibens. Ich bilde mich nicht ab, sondern erschaffe mir ein Selbstbild. Mit dem ich nicht verwechselt werden möchte, aber mich selbst längst zu verwechseln begonnen habe.“
Dieses Selbstbildnis ist das eines konservativen, traditionsbewussten Linken, der gegen den Verlust von Wörtern und den Verfall der Sprache im Wohlmeinen ebenso anschreibt wie gegen den Verfall der Werte im Relativismus, den Verfall der Sitten in öffentlichen Verkehrsmitteln und immer wieder gegen Neoliberalismus, Neue Medien, Zeitgeist und österreichischen Chauvinismus. Seine Kritik oder sein Unwohlsein führen aber nie dazu, dass er verbiestert an Vergangenem festhalten würde, sondern dass er ganz im Gegenteil die Geschichtlichkeit jedes Augenblicks betont.

Die Ewigkeit hat ihren Frühling

Der Buchtitel geht auf die kindliche Vorstellung zurück, dass auch die Ewigkeit ihren Frühling, Sommer, Herbst und Winter haben müsste, eine Vorstellung, die er sich auch vom älteren Bruder nicht nehmen lassen wollte. Karl-Markus Gauß ist die Zeit – und damit das Leben in seiner Wandelbarkeit – lieber ist als die Ewigkeit. Das ist das Leitmotiv seiner Aufzeichnungen und seiner Weltsicht. Es zeigt sich, wenn er über Porträtfotografien schreibt, die einen Augenblick aus dem Leben herauslösen und verewigen, doch genau damit auf das Altern und die Vergänglichkeit verweisen.
Es zeigt sich auch in seinen Reisebildern, wenn er betont, dass es ihm nie darum gehe, einen noch so idyllischen Ort oder Augenblick festzuhalten, sondern allem und jedem „seine Zeit, Zeitfähigkeit, Zeitwürdigkeit“ zu geben und also auch die geschichtsabgewandtesten Ort in der nur scheinbar unveränderlichen Provinz mit einer, mit ihrer Geschichte auszustatten.

Wertkonservative Haltung, auch in der Sprache

Die gediegene, wertkonservative Haltung des Gesellschaftskritikers Gauß zeigt sich auch in seiner Sprache, die alles bloß Modische verweigert und das politisch Korrekte attackiert, ohne deshalb aber je in eine provokant-pubertäre Schnoddrigkeit oder in altväterliche Gestelztheit zu verfallen.
Gauß bevorzugt erklärtermaßen „Sätze, die keine Krawatte umgebunden haben, aber auch nicht im Trainingsanzug herumgehen“. Außerdem wünscht er sich Sätze „mit festem Schuhwerk“, um weit und ermüdungsfrei zu gehen. Das ist auch notwendig für einen, der seit vielen Jahren die Ränder Europas bereist und sich in seinen Essays und literarischen Studien stets für die sprachlichen und kulturellen Minderheiten des Kontinents interessiert hat.

Kluge Einsicht in Vielfalt der Kulturen

Dass er, der sich früher einmal mit dem Schmähwort „Minderheiten-Gauß“ herumschlagen musste, inzwischen gelernt hat, dass die Minderheiten Europas nicht besser sind als die Mehrheiten, ja, dass es selbstgerecht und vermessen wäre, dies von ihnen zu erwarten, ist leicht einsehbar. Viel weiter geht die kluge Einsicht, dass die Mehrheit inzwischen aus lauter gesellschaftlichen Minderheiten besteht, indem jeder Einzelne sich seiner eigenen, besonderen Minderheit zugehörig fühlt, der dann auch der entsprechende Respekt entgegenzubringen ist. Das Besondere ist zum Allgemeinen geworden, das Individuelle zum Massenphänomen.
Gauß setzt dagegen auf die Kraft der klugen Einsicht, auf Bildungstradition und die lebendige Vielfalt der Kulturen. Er, der im März mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wird, ist auch in diesem Journal ein unbestechlicher und unpathetischer Verfechter eines lebendigen Europas.
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