Karl-Markus Gauß: Die versprengten Deutschen

Vorgestellt von Raphael Krüger |
Karl-Markus Gauß ist Herausgeber der Salzburger Zeitschrift "Literatur und Kritik". Er hat sich bereits in zahlreichen Büchern mit den sprachlichen und kulturellen Identitäten Europas beschäftigt. Seine Reportagen in "Die versprengten Deutschen" behandeln die Lebenswirklichkeit von Deutschen in Litauen, in der slowakischen Zips und im Süden der Ukraine.
"Luise Quietsch war eine hübsche, mittelgroße Frau, mit Lachfalten um die blauen, munteren Augen und mattblonden Haaren. Wie sie in das Gasthaus trat, uns nach kurzem Blick durch den Saal zuwinkte und ein paar Schritte vor dem Tisch, an dem wir uns erhoben hatten, schon zu sprechen begann, dachte ich zunächst an eine Verwechslung. Nicht nur, dass sich ihre Lebhaftigkeit an diesem Ort der disziplinierten Abwesenheit von Leben denkbar unpassend ausnahm, ich hatte, musste ich mir jetzt gestehen, wie selbstverständlich mit einer anderen Person gerechnet. Ich wusste, sie war ein Wolfskind, eines von jenen ungezählten Wolfskindern, über die in Litauen jahrzehntelang nicht gesprochen wurde, nicht gesprochen werden durfte, und die sich erst vor ein paar Jahren zu organisieren begonnen hatten. "

Die so vergnügte wie geistreiche Dame war 1944 als Kind auf der wilden Flucht vor der Roten Armee von ihren Eltern getrennt und später in eine litauische Familie zwangsadoptiert worden. Ihr erging es wie vielen, nur hatte sie mit ihren neuen Eltern Glück gehabt. Andere Kinder kamen in den Wirren ums Leben oder wurden jahrelang als Arbeitssklaven missbraucht. Nun, als alte Frau, die wie aus einem tiefen Gedächtnisverlust zur deutschen Sprache zurückgefunden hatte, versammelt sie ihre Schicksalsgefährten im Verein "Edelweiß". Eigentlich ein seltsamer Name für eine Vereinigung ihrer Eltern entrissener, ihrer Kindheit beraubter Menschen. Wer dächte hierbei nicht eher an Tränen und Schmerz statt an Alm und Alpenglühen? Doch wo Orte einmal Nimmersatt, Tauroggen, Heidekrug und Schmalleningken hießen, überdeckt die bildhafte, klangvolle Sprache selbst das Bleigrau geschundener Biographien.

Zur Erkundung der unbeachteten Lebensgeschichten und vergessenen Landschaften hat sich der Österreicher Karl-Markus Gauß aufgemacht. Seit einigen Jahren ist er unterwegs zu den kleinen Volksgruppen Europas. In Litauen längs der Memel, an den Hängen der slowakischen Tatra und den Ufern des ukrainischen Schwarzmeers hat Gauß die letzten Mitglieder der einst so zahlreichen wie vielfältigen deutschen Kulturgemeinden im Osten Europas besucht. Über Generationen waren sie Teil eines überwiegend entspannten Sprach- und Völkergemischs gewesen. Im 19. und 20. Jahrhundert, durch die Geburt moderner Nationen, wurde es blutig entzweit. Von vielen sind nur noch die Denkmäler geblieben oder winzige Gruppen, die, raren Spezies gleich, vor dem Aussterben stehen.

Jetzt fahren Linguisten in die Zips, einem 3300 Quadratkilometer großen Landstrich in der heutigen Ostslowakei, um eigentümliche Mundarten und Sprachmelodien einzufangen, bevor auch sie für immer verstummt sind. Die Exoten heißen potoksch, mantakisch und hopgartnerisch und weisen einzigartige Elemente des Mittelhochdeutschen auf. Zur Blütezeit, vor rund 400 Jahren, lebten hier vielleicht 200.000 Menschen deutscher Zunge, vornehmlich Einwanderer aus Sachsen und Schwaben, aus Franken und Flandern. Der Flecken Levoča (zu deutsch: Leutschau) war vormals gefragter Handelspartner Venedigs. Kežmarok, einst Käsmark, mit seinen 20.000 Einwohnern bildete immerhin bis 1944/45 das Zentrum der deutschsprachigen Slowakei. Die Volkszählung im Jahr 2001 ergab gerade noch 131 Deutsche. Unwiderruflich zerstört ist der Reichtum an Sprachen und Dialekten, an Freunden und Nachbarn.

"In einer seltsamen, von den nazistischen Strategen der ethnischen Säuberung, der rassischen Neuordnung Europas niemals erahnten Folgerichtigkeit waren dort, wo die Juden ausgetrieben und der Vernichtung zugeführt worden waren, auch kaum mehr Deutsche., richtiger: nur mehr versprengte, ihres kulturellen Zusammenhalts verlustig gegangene Deutsche zu finden. Und überall dort, wo jene Deutschen nicht mehr zu finden waren, von denen die alten Chroniken, Landkarten, Bücher erzählten, hausten jetzt Roma, die hier gar nicht leben wollten und dafür, dass sie es trotzdem mussten, gleichermaßen von allen, von Ungarn, Slowaken, Deutschen verachtet, ja gehasst wurden, die sich selbst für kultivierte Europäer hielten und die dunklen Gestalten in ihrer Mitte, da Adolf, der Idiot vergessen hatte, sie in der Slowakei auszurotten, am liebsten nach Indien ausgetrieben hätten. "

Gauß’ Reisen bleiben nicht sentimental, sie führen in die verwundete Seele Europas. Er berichtet von Menschen, die Opfer wurden und für die Leiden anderer erblindeten. Er erwähnt die Eifersüchteleien und Feindseligkeiten zwischen deutschen Kleinstvereinen, deren Mitglieder an Händen zu zählen sind. Und die, welche sie einst drangsalierten oder gleichgültig wegsahen, entdecken, um eigener Vorteile willen, plötzlich deutsche Vorfahren, die sie nie besaßen und schicken ihre Kinder auf deutschsprachige Schulen. Doch wird der Autor keineswegs spöttisch oder abfällig. Sein sanfter, melancholischer Erzählton, mitunter heiter und leicht, verleiht sogar einer trübseligen Wirklichkeit Würde. Die in den Text eingestreuten, verwehten Schwarz-Weiß-Photographien wirken wie aus einem vergilbten Familienalbum.

Erst gegen Ende des Buchs bricht aus dem Autor etwas wie Verzweiflung hervor. Abstecher in die gänzlich zerfallenden Überreste deutscher Schwarzmeersiedlungen geraten zu Ausflügen ins Nichts. Gauß’ trifft auf Menschen, die weder ein kollektives noch ein individuelles Gedächtnis besitzen, die orientierungslos in Raum und Zeit stehen.

"In den einstigen Großliebentaler Kolonien wussten viele nicht, dass diese von Deutschen gegründet, ja viele Häuser, die sie bewohnten, von deutschen Kolonisten gebaut waren, aber sie wussten auch nicht, wo ihre eigenen Vorfahren gelebt haben, woher sie selber gekommen sind, Strandgut ungeheurer Völkerwanderungen, die bürokratisch verfügt, vom verheerenden Krieg verursacht oder vom Elend erzwungen wurden. "

Mitten in dieses Nirgendwo hat die strategische Weitsicht eines bundesdeutschen Aussiedlerbeauftragten eine Siedlung gestellt. Sie ist fast menschenleer geblieben. Zwei Frauen einer Familie aus Kasachstan sind den Tränen nahe, weil der Ablehnungsbescheid auf Übersiedlung nach Deutschland für sie lebenslänglich Kudrjawka bedeutet. Hier bricht der Erzähler ab, wie um selbst still zu weinen.

Karl-Markus Gauß: Die versprengten Deutschen
Unterwegs in Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer
Zsolnay Verlag, München / Wien, 2005