Karl Ove Knausgård: "Aus der Welt"
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand Verlag, München 2020
926 Seiten, 26 Euro
Scham und Schuld
05:48 Minuten
Mit mehr als 20 Jahren Verspätung erscheint nun Karl Ove Knausgårds Debütroman „Aus der Welt“ auf Deutsch. Darin verliebt sich ein Lehrer in eine erst 13 Jahre alte Schülerin, verführt sie und flieht.
"Es war unglaublich intensiv. Trinken, schreiben, unterrichten. Es war wie ein verdammter Roman." Karl Ove Knausgård erinnert sich daran, wie er als junger Mann in einem Dorf im äußersten Norden Norwegens kurze Zeit als Lehrer gearbeitet hat. Der norwegische Autor, der für sein sechsbändiges, radikal autobiografisches Romanprojekt international gefeiert wurde, trägt eine Sonnenbrille, während wir über ein weites Feld im südöstlichen Londoner Stadtteil Blackheath spazieren.
Hier spricht Knausgård, wie er selbst sagt, seit zwei Jahrzehnten zum ersten Mal wieder über seinen Debütroman "Aus der Welt". Den hat er mit Ende zwanzig geschrieben. Knausgård sagt: "Das hat mich sehr erfüllt, aber auch zu einem großen Narzissten gemacht: Ich war verheiratet, hatte eine Beziehung und Freunde, und all das habe ich einfach beiseite geschoben. Ich habe in der Nacht geschrieben und am Tag geschlafen. Für mich war das magisch, für meine Umgebung wahrscheinlich schrecklich."
Die Geschichte eines Missbrauchs
"Aus der Welt" handelt von der Sehnsucht eines Mannes nach der verlorenen Kindheit und dem Versuch, sie in der Erinnerung wieder auferstehen zu lassen. Vor dem Schreiben seines Debüts hatte Knausgård nämlich Marcel Proust gelesen, allerdings auch Vladimir Nabokovs Roman "Lolita". Und so ist "Aus der Welt" auch eine Missbrauchsgeschichte geworden.
Der 26-jährige Aushilfslehrer Henrik verliebt sich in einem nordnorwegischen Dorf in seine 13-jährige Schülerin Miriam, verführt sie, verlässt das Dorf fluchtartig und zieht ins südschwedische Kristiansand, an den Ort, an dem er aufgewachsen ist. Dort erinnert sich Henrik an seine Jugend und an seine Zeit als Aushilfslehrer, bis er am Ende des Romans wieder gedanklich in der Gegenwart ist und Miriam wiedersieht.
Karl Ove Knausgård und ich spazieren an zwei Schulklassen vorbei, die auf der Grünfläche von Blackheath Sportunterricht haben. Die Kinder könnten so jung sein wie die von ihrem Lehrer verführte Miriam aus dem Roman. Der Roman sei Fiktion und die Missbrauchsgeschichte reine Erfindung, betont Knausgård. Bei dem Thema hat er lange gezögert:
"Ich habe mir damals zwei Wochen lang den Kopf zerbrochen, ob ich so etwas schreiben darf. Ich hatte Angst vor den Reaktionen, dachte, das sei ein Problem: ein 26 Jahre alter Mann und ein 13 Jahre junges Mädchen. Aber als mein Buch dann erschienen ist, gab es in der norwegischen Presse keine Kontroverse dazu. Heutzutage wäre das natürlich ganz anders."
Der Vater - ein unerträglicher Alkoholiker
Sorgen hat sich Knausgård damals beim Schreiben des Romans noch aus einem anderen Grund gemacht: Würde er den Mut haben, den Text, in dem von einem Vater die Rede ist, der sich wie ein stures Kind benimmt und ein unerträglicher Alkoholiker wird, seinem eigenen Vater zu zeigen? Einmal hatte er bei einem Besuch die Fahnen zum Korrekturlesen dabei.
"Mein Vater hat das Manuskript nie gelesen. Aber mein Bruder hat es gelesen und gesagt: 'Unser Vater wird dich verklagen.' Aber dann ist er gestorben, ohne es gelesen zu haben. Es hätte mich gefreut, wenn er mein Buch gelesen hätte. Ich wollte ihm damit gewissermaßen mich und unsere Beziehung vor Augen führen. Aber dazu ist es nie gekommen", sagt Knausgård. Der Tod des Vaters löste bei Knausgård eine mehrjährige Schreibblockade aus.
60 Seiten für einen Traum
"Aus der Welt", über 900 Seiten lang im Deutschen, ist das maßlose Debüt eines Autors, der sich alle möglichen literarischen Freiheiten herausnimmt - wie die Schilderung eines sechzig Seiten langen skurrilen Traums. Darin wähnt sich Henrik in einem Paralleluniversum, in dem laut Lexikon Immanuel Kant die örtliche Betäubung erfand, Louis Pasteur Komponist war und Dante die italienischen Republik gründete.
Beim Schreiben nach Freiheit streben und sich assoziativ treiben lassen, das macht Karl Ove Knausgård seit seinem Debüt. Heutzutage versucht er, nicht nur beim Schreiben, sondern auch im Leben die Leser seines autobiografischen Romanprojekts auszublenden: "Ich kann es mir nicht leisten, darüber nachzudenken, dass Menschen so viel über mich wissen. Aber hier ist das kein Problem."
Im Londoner Stadtteil Blackheath habe nämlich sicher niemand seine autobiografischen Bücher gelesen. Hier müsse er sich nicht verstecken.
Aber warum, frage ich Karl Ove Knausgård zum Schluss, trage er dann eine Sonnenbrille? "Wegen der Sonne", antwortet er.