Wiebke Keuneke: "Selten ging mir eine Recherche so in die Nase. Bei Karls fällt man von einer Geruchswolke in die nächste: erst Erdbeermarmelade, dann Erdbeerbonbons, Erdbeerseife - und ich gestehe: ja: ich habe am Ende - leicht gehirngewaschen - 3 Gläser Erdbeermarmelade gekauft. Für neun Euro statt 10,50 Euro fünfzig."
Das Geschäft mit der Saisonfrucht
Die Erdbeere hat Robert Dahl und seine Familie reich gemacht: In riesigen Verkaufsscheunen bieten sie mehr als 15.000 Produkte rund um die Erdbeere an. Mittlerweile gibt es sogar einen Erdbeer-Erlebnis-Park.
"Ich möchte Sie ganz herzlich hier bei uns in der Marmeladenmanufaktur begrüßen. Wir produzieren sieben Tage lang unsere leckeren Träume, und der absolute Traum ist der Erdbeertraum - habe ich gerade schon erwähnt - drei Gläser für sagenhafte neun Euro und keine 10,50, schön zum Verschenken und auch zum Selberessen, einfach lecker, einfach ein Traum."
Rövershagen bei Rostock. Ein Sonntag im Frühling. Im flachen Land zwischen Feldern und Äckern ragt ein Gebäude in die Höhe, das aussieht, als hätte der Riese Gulliver sich eine Scheune gebaut. Bauernhof-Romantik – nur eben im XXL-Format. Die Frau um die 50, die drinnen die Erdbeer-Marmelade anpreist, wirkt ebenfalls ein bisschen wie im Märchen: etwas drall, mit Kittelschürze aus Omas Zeiten, kleine Lach-Fältchen um die Augen, aus denen es lustig funkelt. Gestatten: Irmi, Marmeladen-Fachkraft auf Karls Erdbeerhof.
Robert Dahl ist Irmis Chef. Mitte 40, sportlich schlank, smartes Lächeln, sympathisch einnehmendes Wesen: Dahl ist der Gründer und Eigentümer von Karls Erdbeerhof. Man darf auch sagen: Karls Erlebnis-Dorf – beide Bezeichnungen stehen für eine Geschäftsidee, die eine Mischung von Erdbeer-Fabrik, Erdbeer-Ikea und Erdbeer-Disneyland verbindet. Der Eintritt ist frei.
6.000 Tonnen Erdbeeren pro Jahr
2.500 Gläser füllen Irmi und ihre Köchinnen jeden Tag vor den Augen der Zuschauer. Und das nur in Rövershagen. Am Rohstoff mangelt es nicht: Rund um das Erlebnisdorf werden auf einer Fläche von mehr als 420 Fußball-Feldern Erdbeeren angebaut. Ertrag pro Jahr: fast 6.000 Tonnen.
6.000 Tonnen! Das entspricht zehn Riesen-Flugzeugen vom Typ Airbus A380 – samt Passagieren, Gepäck und Kerosin. Wenn das Opa Karl gewusst hätte. Denn den gab es wirklich.
1921 kaufte der einen Obst- und Gemüsehof in Mecklenburg-Vorpommern, bot seine Waren auf den Wochenmärkten der Umgebung an. Das lief einige Jahre – dann kam der Krieg. Als der aus war, floh Opa Karl mit Frau und Kindern vor der Roten Armee der Russen nach Schleswig-Holstein. Und wieder arbeitete er als Landwirt. Nun aber schon als reiner Erbeer-Bauer: Abnehmer war die Marmeladenfabrik Schwartau in Bad Schwartau. Das Geschäft lief. Irgendwann übernahm Sohn Karl-Heinz den Betrieb.
S nach der Wende
Doch dann kamen Wende und Wiedervereinigung – und mit der neuen Zeit billige Erdbeeren aus Polen. Die Marmeladenfabrik kündigte den Lieferanten-Vertrag. Dahls General-Abnehmer war von heute auf morgen weg. Ein harter Einschnitt für Karl-Heinz, seine Frau und die Kinder, Ulrike und Robert.
Robert Dahl will jetzt die Äcker zeigen, auf denen seine Erdbeeren wachsen. Während der Pflücksaison von Mai bis August arbeiten bis zu 1.300 Erntehelfer bei Karls – und die meisten kommen aus Polen. Ironie der Geschichte: Was Vater Karl-Heinz 1990 wirtschaftlich das Genick gebrochen hat, nutzt Sohn Robert.
Pflücker aus Polen und der Ukraine
Deutsche Pflücker würden ab einem Stundenlohn von 40 Euro arbeiten, vermutet der und fügt hinzu: Das könne er einfach nicht bezahlen. Also pflücken vor allem Polen oder Ukrainer die Erdbeeren auf den riesigen Feldern von Karls. Dahl zahlt ihnen den gesetzlichen Mindestlohn: 8,60 Euro pro Stunde.
"Was wichtig ist beim Pflücken, worauf wir hier achten: Dass wir die Erdbeere selber nicht anfassen, sondern die an dem Stiel ungefähr so anfassen, so abreißen, so dass ungefähr ein Ein-Zentimeter-langer Stiel entsteht, als Zeichen dafür, dass die Erdbeere eben nicht abgerissen wurde, weil bei diesem Abreißen entstehen dann hier so ganz kleine Druckstellen, die dann dazu führen, dass sie am nächsten Tag schon nicht mehr schön aussieht, die Erdbeere."
Ein paar Gehminuten vom eigentlichen Erdbeer-Hof und dessen Kundschaft entfernt, liegt die Unterkunft der Saisonarbeiter. Genau da, wo die Felder beginnen – und sie wirkt für eine Massenunterkunft, in der mehrere hundert Menschen sich Mehrbett-Zimmer teilen, erstaunlich einladend.
"Die kommen also meistens so für zwei Monate, auch wenn die Saison insgesamt länger geht. Aber das ist so, weil länger kann das kaum einer irgendwie auch ermöglichen, weil ja jeder hat von denen zuhause 'ne Familie oder irgendwas, hat irgendwelche Verpflichtungen. Also, dass die dann so für 50, 60 Tage hier sind, dann wieder nach Hause fahren und dann ein anderer kommt."
Das Mittagessen für die Saisonarbeiter wird auf dem Feld serviert.
Nippes, der sich gut verkauft
Die Ware wird im Erdbeer-Hof in Marmelade, Kuchen, Schokolade, Bonbons oder Cocktails verarbeitet - oder eben auch direkt an die Kunden verkauft. In der riesigen Scheune schieben sich die Besucher durch Regal-Gänge mit Nippes, von denen sie vorher nicht wussten, dass sie ihn brauchen.
Erdbeer-Turnbeutel, Erdbeer-Magnete, Erdbeer-Stifte, Erdbeer-Radiergummi, Erdbeer-Papier, Erdbeer-Schnauztücher, Erdbeer-Taschenmesser, Erdbeer-Schlüsselanhänger, Erdbeer-Saft, Edbeer-Wein, Erdbeer-Brause, Erdbeer-Sekt, Erdbeer-Gummistiefel, Erdbeer-Bademäntel, Erdbeer-Taschentücher... Mehr als 15.000 Produkte rund um die Erdbeere werden in der Scheune angeboten. Passend zu direkt angedockten knallbunten, verkitschten Erdbeer-Märchenwelt.
Als Vater Karl-Heinz seinem Sohn Robert nach dessen Lehre zum Obstbauern und einem Jahr Sprachschul-Aufenthalt in Polen 1992 vorschlug, dass dieser sich selbständig machen sollte, ahnte niemand, welches Erdbeer-Imperium daraus mal entstehen würde. Robert entschied, seinen ersten Hof da zu gründen, wo auch der Großvater einst angefangen hatte: Bei Rostock eben. Dahl erhielt im Rahmen der Aufbau-Hilfe-Ost ein Gründerdarlehen des Landes Mecklenburg-Vorpommern in Höhe von 500.000 D-Mark. Davon kaufte der damals 22-Jährige zehn Hektar Land und einen Trecker; und er pflanzte die ersten Erdbeeren. Die Arbeit war hart, Dahl lebte im Wohnwagen, aber er glaubte an die Idee, die Vater Karl-Heinz ihm damals nach der Wiedervereinigung in einen Brief nahegelegt hatte. Bis heute hängt dieses Papier in einem seiner Büros, gerahmt - gleichsam Mahnung wie Versprechen.
Die Mitarbeiter heißen "Karlsianer"
Wieviel Gewinn Karls heutzutage macht, darüber schweigt Robert Dahl. Allerdings hat der umtriebige Geschäftsmann mal verraten, dass der Umsatz des Unternehmens kurz nach der Gründung bei 440.000 Euro lag – und heute hundertmal so hoch sei. Das würde bedeuten: 44 Millionen Euro Umsatz pro Jahr.
"Wir nehmen ja auch nicht jede x-beliebige Erdbeere für unseren Erdbeertraum, sondern wir haben uns aus sage und schreibe 200 Sorten für nur drei Sorten entschieden um unseren leckeren Erdbeertraum zu produzieren."
Erdbeer-Köchin Irmi versteht ihr Geschäft. Das ist kein Zufall. Sicher hat Irmi auch ein natürliches Verkaufstalent. Aber sie wurde ebenso professionell geschult. Nach Programmen, die die Schwester von Robert Dahl entworfen hat: Ulrike Dahl. Eine Frau, die wie ihr Bruder in jeder Sekunde ausstrahlt, dass die Firma ihr Leben ausfüllt – und erfüllt.
Ulrike Dahl hat die Personal-Fortbildungen entworfen. Darin lernen "Karlsianer" – so heißen bei ihr die Mitarbeiter des Unternehmens -, wie sie für die "Fans" zu dem werden, was Ulrike Dahl Kontakt-Götter, Herz-Eroberer oder eben Goldstücke nennt. "Fan" sagt Ulrike Dahl konsequent zu jenen Menschen, die andere Geschäftsleute als Kunden, Gäste oder Besucher bezeichnen.
"Ein Verkäufer ist auch ein Seelentröster oft oder ein Psychologe. Es gibt viele Kunden, die kommen jeden Tag hierher, um zu frühstücken. Jeden Tag. Und die wissen von denen alles. Ob der Dackel Durchfall hat. Oder ob die Tochter nach Amerika geht – alles! Und oft sind Verkäufer sich dessen gar nicht so bewusst, was sie leisten. Weil: Mit 'ner guten inneren Haltung kann ich nämlich auch ein brillanter Verkäufer sein. Und das gehört zu 'nem guten Goldstück dazu."
Verkäufer sind die "Goldstücke"
Sagt's – und lächelt. 550 Menschen beschert Karls in der Verwaltung, den Manufakturen, im Gastronomie-Betrieb und den Freizeit-Parks an seinen sieben Standorten eine ganzjährige Festanstellung. 180 weitere zeitlich begrenzte Arbeitsplätze bestehen während der Hauptsaison. Und noch mal 900 Männer und Frauen haben als Verkäuferinnen und Verkäufer bei Karls ein Auskommen. Macht insgesamt mehr als 1500 Arbeitsplätze – für Helden und Feen, wie Ulrike Dahl sie nennt. Und dazu 1300 Saisonkräfte auf den Feldern – die bekommen allerdings keine Schulung und heißen nicht Goldstück, sondern Arbeiter.
Überragt wird der Open-Air-Freizeitpark vom großen Karlossos, einem fast 20 Meter hohen Riesen-Rutschturm, von dessen oberster Plattform der Blick sogar bis ins zehn Kilometer Luftlinie entfernte Warnemünde reicht – oder aber einfach kurz nach unten auf Kartoffelsack-Rutsche, Traktorbahn, Hafenkranschaukel, den fliegenden Kuhstall, die Go-Kartbahn, Ponyreiten und Streichelzoo, Rüben-Rutsche, Drahtesel-Hopping, Mini-Bagger, der dem Start- und Landeplatz einer Heiß-Luftfahrt im Erdbeer-Ballon – für 200 Euro …
Der "Apple" unter den Erdbeeren
Wer mit Robert Dahl durch sein Erdbeer-Paradies läuft, spürt seine fast kindliche Freude über die eigenen Attraktionen. Genauso muss er 2015 geschmunzelt haben, als das Wirtschaftsmagazin Brandeins einen sehr wohlwollenden Artikel über die Nachwende-Erfolgsgeschichte von Karls schrieb. Vor allem den Titel fand Dahl klasse: "Der Apple unter den Erdbeeren", hieß es da. Später im Büro erzählt er von der medialen Kehrseite: 2012 lieferte die Tageszeitung "taz" eine eindeutig negativere Schlagzeile: "Unerträgliche Erdbeer-Nazis".
"Ich lebe das Leben hier, ich leb' diesen Laden jeden Tag. Und wenn man da denn so angegriffen wird, das denn einfach, das ist einfach persönlich. Das ist so, als ob man persönlich beleidigt wird, einfach von irgendjemandem, und wem das nicht weh tut, der ist scheintot oder so."
In dem Artikel ging es um Bezahlung und Arbeitsbedingungen bei Karls. Es stellte sich aber bald heraus, dass der Autor nie selber bei Karls recherchiert hatte – und auch eine Einladung des Firmenchefs ausgeschlagen hatte. Hängen geblieben ist von der Geschichte dann nicht viel mehr als eine schlechte Erinnerung bei Robert Dahl.
Ähnlich hat er das Jahr 2011 in Erinnerung. Zehn Jahre zuvor hatte der Erdbeerhof endgültig den Namen von Großvater Karl bekommen – die Sache lief wirtschaftlich ganz gut, erfüllte alle Beteiligten aber nicht mehr mit Freude am Tun.
"Wir haben dann irgendwann zusammengesessen und waren eigentlich ein bisschen frustriert darüber über diese Situation, was aus 'Karls' geworden war. Eigentlich. Also weil: Wir haben diesen Erdbeer-Hof, der Landwirtschaftsbetrieb, der gefiel uns immer noch, weil das ist ein tolles Produkt, die Erdbeere. Die sind gesund, lecker, die sehen toll aus und alles. Jeder mag die eigentlich. Aber der Rest von Karls, der war uns dann ein bisschen aus den Fugen geraten."
Das Unternehmen holte sich damals Hilfe: das Krisenmanagement übernahm eine Werbeagentur. Hausaufgabe war: Wörter finden, die das Unternehmen Karls beschreiben.
"Liebevoll. Familiär. Großzügig. Augenzwinkernd. Kreativ. Authentisch. Jetzt habe ich sie Gottseidank alle zusammen gekriegt."
Ein Erdbeer-Land bei Berlin
Die Firmen-Philosophie mit den sechs Adjektiven fand auch schon jenseits aller Geschäfte Anwendung: 2015 etwa stellte Karls mit Unterstützung des Landkreises, aber gegen große Widerstände in der Bevölkerung seine im Winter leerstehenden Pflücker-Unterkünfte für 300 Flüchtlinge zur Verfügung. Zwölf davon arbeiten bis heute im Unternehmen.
Und das floriert: In Elstal bei Berlin entsteht gerade auf einem ehemaligen Kasernen-Gelände der russischen Armee Karls Erdbeer-Land.
Läuft bei ihm, würden junge Start-uper wohl salopp formulieren. Man kann es aber auch so ausdrücken: Familie Dahl schreibt ein weiteres Kapitel in ihrem ganz persönlichen Erdbeer-Märchen.