Karlsruher Urteil

Die schulmeisterliche Herablassung der Richter

Von Peter Kapern |
Die Karlsruher Entscheidung, die Drei-Prozent-Klausel für Europawahlen zu kippen, degradiert das Parlament zu einer Versammlung zweiter Klasse, meint Peter Kapern. Wirklich verstörend sei aber etwas anderes.
Wenn Marco Bülow, der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Dortmund, an die Arbeit geht, kann er sich mächtigen Ärger einhandeln. Zum Beispiel, wenn er für eine Steuererhöhung votiert. Oder wenn er der Bundesregierung bei einer Abstimmung die Gefolgschaft verweigert. Bernhard Rapkay aber, der SPD-Europaabgeordnete aus Dortmund, schwebt gar nicht erst in der Gefahr, sich in solchen Fragen den Zorn der Wähler oder der Partei zuzuziehen. Das Europaparlament darf nämlich keine Steuern erheben - und es stützt auch keine europäische Regierung.
Es gibt sie also, die Unterschiede zwischen Rapkay und Bülow, zwischen dem Europaparlament und dem Bundestag. Heute hat Karlsruhe seine Schlußfolgerung daraus präsentiert. Weil das Straßburger Parlament mit eingeschränkter Kompetenz handelt, muß dessen Arbeitsfähigkeit auch nicht durch eine Sperrklausel geschützt werden. Und da sich im Straßburger Plenarsaal ohnehin schon Vertreter von mehr als 160 Parteien tummeln, kommt es auf eine paar Exoten mehr oder weniger auch nicht mehr an.
Die europäischen Volksvertreter – eine parlamentarische Versammlung zweiter Klasse. So sieht das die knappe Mehrheit im zweiten Senat des Verfassungsgerichts. Sie hat damit ein demoralisierendes Urteil gefällt. Nicht so sehr, weil aus ihm Karlsruhes Geringschätzung der Arbeitsweise des Europaparlaments spricht. Denn gerade die limitierte Macht des Parlaments gegenüber Kommission und Rat hat eine große Kompromißfähigkeit im Straßburger Parlamentsalltag wachsen lassen. Da wird weit häufiger als im Bundestag an der Sache orientiert und nicht an der Parteilinie entlang entschieden.
Schulmeisterliche Herablassung
Auch Karlsruhes Unwille, den Weg, den das Europaparlament in den vergangenen 35 Jahren zurückgelegt hat, angemessen zu würdigen, irritiert nur mäßig. 1979 war es eine machtlose Orchideenversammlung. Seither hat es beständig an Macht gewonnen. Der Vertrag von Lissabon sichert ihm das Recht zu, über den Kommissionspräsidenten und den EU-Außenminister abzustimmen. In Haushaltsfragen geht fast nichts mehr ohne eine Mehrheit in Straßburg. Karlsruhe aber reicht das nicht.
Wirklich verstörend am heutigen Urteil aber ist etwas anderes: Nämlich eine schulmeisterliche Herablassung, die darin mitschwingt. Wir, die Verfassungsrichter, bestimmen, wann ein Parlament nicht mehr arbeitsfähig ist. Womöglich erst, wenn immer mehr irrlichternde Exoten unter den Abgeordneten die Kompromissfindung fast unmöglich gemacht haben, der Zweifel unter den Wählern am Projekt Europäische Union weiter gewachsen ist, genau so wie die Zahl der Nichtwähler.
Das ist eine spezielle, eine juristische Variante der Verelendungstheorie, die Karlsruhe da vertritt: Erst muss alles schlimmer werden, bevor wir erlauben, dass es besser wird.
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