Streit um Südamerikas goldenen Schatz
Eine ungeahnte Karriere: Die Kartoffel ist vom Genuss- zum Streitobjekt zwischen zwei Nationen aufgestiegen. Chile und Peru beanspruchen die Urheberschaft für die kostbare Knolle. Unser Südamerika-Korrespondent hat sich auf die Spur des Kartoffelstreits begeben.
Ein Opferfest auf dem Kartoffelacker. Frauen gekleidet mit weiten Röcken, farbig bestickten Baumwolljacken und breiten, roten Filzhüten und Männer mit Ponchos stehen auf einem Feld im peruanischen Hochland im Kreis. Sie wühlen in einem kleinen Haufen trockener Koka-Blätter. Dann halten die Campesinos, die Landarbeiter, die Blätter in die Höhe, murmeln Beschwörungsformeln und hauchen dabei in die Luft.
"Ayni", heißt dieser jahrhundertealte Brauch zu Ehren von Pachamama, der allmächtigen Göttin, die schon die Inkas in Peru verehrten. Die Männer und Frauen auf dem Kartoffelfeld bei Chinchero, nahe Cusco, sind die Nachfahren der Inkas. Deren Traditionen sind bis heute lebendig. Pachamama, die Mutter Erde, und die Apus, die Geister der umliegenden Berge, sollen die "papas andinas", die Kartoffeln segnen, verrät Marleny Callañaupa:
"Immer vor der Aussaat vollziehen wir diese traditionelle Zeremonie. Sie stammt aus der Zeit unserer Vorfahren, der Inkas. Wir führen sie von Generation zu Generation fort, damit sie nicht in Vergessenheit gerät."
Marleny verteilt Kartoffeln und Kokablätter so auf die Erde, dass sie ein Kreuz ergeben, bespritzt sie mit Zuckerrohr-Schnaps und Chicha, gegorenem Maissaft. Danach werden eine Kartoffel und ein Koka-Blatt symbolisch gemeinsam gepflanzt. Eine Zeremonie, die vor jeder Aussaat im südamerikanischen Frühling wiederholt wird.
Die Aussaat der Kartoffeln im Oktober ist in der dünnen Luft des peruanischen Hochlandes schweißtreibend. Schwer atmend treibt ein Campesino die beiden Ochsen über das Feld. An ihren Hörnern ist ein Holzpflug befestigt, der sich tief durch die trockene, hellbraune Erde gräbt. Immer wieder wollen die Tiere aus der Spur ausbrechen, nur mit Mühe hält der Campesino die beiden Ochsen auf Kurs.
Hinter dem Gespann marschiert Urbano Cuira. Kokakauend setzt er Saatkartoffeln in die schmale Furche, die das Ackergerät in die Erde gepflügt hat. Seit Stunden schon müht er sich in gebückter Haltung. Die Kartoffeln – zwei besondere Sorten - trägt Urbano Cuira in seinem erdfarbenen Poncho, den er zu einer Tasche geformt hat. Der Campesino sieht geschafft aus.
"Die Arbeit ermüdet einen. Ich muss die ganze Zeit gebückt gehen. Zwölf Kilo Kartoffeln habe ich dabei. Die eine Sorte heißt Sica und die andere nennen wir Alianza. Sie ist nämlich schwarz und weiß, so wie das Trikot des Fußballklubs Alianza Lima."
Die Kartoffel ist wie ein Schatz
Die traditionellen Kartoffeln aus den Anden, die "papas andinas", sind der Schatz Perus. Das Andenland gilt auch als "Wiege" der Kartoffel. Überall im Land werden die Knollen noch so angebaut wie in Chinchero, im Hochland von Cusco. Marleny Callañaupa ist mit den "papas andinas" aufgewachsen. Sie sind Teil ihres Lebens.
"Die Kartoffel ist für uns wie ein Schatz. Sie gibt uns Leben. Ihre Stärke ernährt uns. Jeden Tag kommt bei uns die Kartoffel auf den Teller. Als Vor- und als Hauptspeise. Aber auch als Zwischenmahlzeit – etwa auf dem Feld – greifen wir zur Kartoffel."
Die Vielfalt der Kartoffeln in Peru ist sagenhaft. Sie spiegelt sich wider in vielen bunten Farben und ungewöhnlichen Formen. Oft sind es diese bizarren Formen, die den Knollen die Namen geben. Etwa die dunkelbraune "Puka Weqo", die kleine Gerollte, die eher an eine Wurst als an eine Kartoffel erinnert, oder "Puma Maqui", die grünlich-schwarze Puma-Kralle, die zwar gefährlich klingt, dafür aber exquisit schmeckt. Manche Kartoffeln haben einst sogar über Wohl und Wehe von Beziehungen entschieden. Marleny Callañaupa nimmt "Chatschu wa Chatschi" in die Hand, eine dunkelbraune, zerklüftete Kartoffel, sie ist übersät mit Warzen. Diese Kartoffel gilt in Peru als Albtraum der Schwiegertöchter.
"'Chatschu wa Chatschi' hat sehr viele Augen. Die Frauen gaben diese Kartoffel früher ihren zukünftigen Schwiegertöchtern. Und bevor sie der Beziehung zustimmten mussten die jungen Frauen die Kartoffel sauber schälen, was wegen der vielen Augen, Warzen und Furchen sehr schwierig war. 'Chatschu wa Chatschi' bedeutet übersetzt: Die Kartoffel, die die Schwiegertöchter zum Weinen bringt."
Eine weitere Besonderheit sind die Kartoffeln, die dem Frost und Minus-Temperaturen trotzen. Sie werden in den Bergregionen im Hochland angebaut, sogar in einer Höhe von 5000 Metern über dem Meeresspiegel. Und auch hier spielen die jahrhundertealten Inka-Traditionen eine entscheidende Rolle. Nach überlieferten Verfahren werden spezielle Sorten über mehrere Nächte im Freien zum Gefrieren ausgebreitet, danach dort belassen oder auf den Grund von Bachläufen gelegt. Wochen später treten die Campesinos mit ihren Füßen die Flüssigkeit aus den Kartoffeln. Anschließend werden sie in der Sonne getrocknet. "Moraya" und "Chuño" heißen diese gefrier-getrockneten Kartoffeln, die bis heute ein wichtiger Bestandteil der Nahrung in den rauen Andenregionen sind.
"Diese dehydrierten Kartoffeln sind äußerst nahrhaft und wichtig für die Entwicklung des Gehirns. Sie sind hier in Peru sogar das wichtigste Nahrungsmittel und halten sich über viele Jahre. Manchmal zehn, 15, ja sogar 20 Jahre lang. Schon die Inkas, haben sie gefriergetrocknet und in 'taques', speziellen Keramik-Behältern gelagert. Auf diese Weise konnten sie die Kartoffeln überall hin transportieren. Auch wir heben sie getrocknet auf."
Auch 4000 Kilometer weiter im Süden des Kontinentes, in Chile, haben die Kartoffeln eine herausragende Bedeutung. Bäuerin Marlene Álvarez lebt in Rauco, einer kleinen Ortschaft auf der Insel Chiloé. Die Insel im Pazifik ist das zweitgrößte Eiland Chiles. Die traditionellen Kartoffeln, die "papas nativas" bestimmen das Leben der Kartoffelbäuerin:
"Seit je her baue ich Kartoffeln an, wie schon meine Eltern und Großeltern. Wir haben immer unsere 'papas nativas' angebaut. Und als einziges gebe ich nur Naturdünger dazu. Es kommt keinerlei Chemie aufs Feld. Nur der Dung meiner Tiere aus dem Stall."
Erforschung der Kartoffel
Marlene Álvarez lagert ihre Kartoffeln in einem Schuppen. Mit beiden Händen greift sie in eine große Kiste und holt einige Knollen heraus. Ein Farben- und Formenspektakel. Die Kartoffeln sind tief blau-lila, leuchtend rot, glänzend schwarz, rund, langgezogen wie dünne Auberginen, manche haben außen Pickel und Grübchen, aufgeschnitten sind sie innen mehrfarbig marmoriert.
Auch ihre Sorten haben ungewöhnliche Namen. "Guapa", die Hübsche, "azul riñona", die blaue Niere, "ojitos lindos", die schönen Augen, andere Knollen heißen Hexe und Zicklein. Auch Valeria Oyarzo lebt auf Chiloé und kennt die Namen aller Kartoffelsorten. Es sind nicht wenige.
"Wir haben in der Saatgut-Bank etwa 200 unterschiedliche Sorten. Die ursprüngliche Kartoffel, die 'papa nativa', hat eine sehr hohe genetische Variabilität. Sie kann sich ungeschlechtlich vermehren, indem man die Kartoffel in der Erde vergräbt, man bekommt dann die gleiche Kartoffelpflanze. Nach der Blüte bildet die Pflanze auch eine kleine Frucht aus, vergleichbar einer Cherry-Tomate, in der sich viele Samen befinden. Wenn nun diese Pflanze inmitten anderer, unterschiedlicher Kartoffelpflanzen wächst, bestäuben sie sich gegenseitig. Deshalb die hohe Variabilität."
Valeria Oyarzo ist Agraringenieurin. Sie leitet ein Projekt zur Erforschung der "papa nativa", der einheimischen Kartoffel auf Chiloé.
"Über viele Jahre war Chiloé sehr isoliert vom Rest des Landes. Dafür gibt es politische Gründe. Die Insel wollte nicht Teil des Staates sein. Es gab kaum Kontakt mit dem Festland. Die Menschen hier waren gezwungen, sich selbst zu versorgen. Und das hatte natürlich Auswirkungen auf den Kartoffelanbau. Und das Wissen hat sich bis heute gehalten. Die Tradition wurde übertragen von einer Generation zur anderen."
Darüber wie alt diese Tradition ist, kann man nur mutmaßen. Valeria Oyarzo ist davon überzeugt, dass man sehr weit in die Vergangenheit gehen muss, um die Ursprünge der Kartoffeln auf Chiloé zu ergründen.
"In den Geschichtsbüchern kann man nachlesen, dass schon die spanischen Eroberer vor etwa 500 Jahren diese Kartoffelsorten vorfanden. In Monte Verde, einer archäologischen Ausgrabungsstätte hier ganz in der Nähe - sie ist etwa 13.000 Jahre alt – hat man sogar Spuren wilder Kartoffeln gefunden. Das ist ein Beleg dafür, dass diese Sorten sehr alt sind."
Die Menschen auf Chiloé sind davon überzeugt, dass nicht Peru sondern natürlich Chile die "Wiege" der Kartoffel ist. Stammt die Knolle doch nicht aus den Anden, wie man bisher immer vermutet hat? Stattdessen von der chilenischen Insel, wo man die jahrtausendalten Spuren der Wildsorten gefunden hat? Bäuerin Marlene Álvarez hat eine klare Meinung.
"Die Kartoffeln stammen aus Chile. Völlig klar. Alles wollen uns die Peruaner nehmen, aber da sind sie auf dem Holzweg. Chiloé ist die Heimat der Kartoffeln. Und nirgendwo sonst. Als die Spanier hierher kamen, existierte die 'papa nativa' bereits. Die Ur-Kartoffel stammt also aus Chiloé."
Alberto Salas ist anderer Meinung. Muss er wohl auch sein. Er ist Peruaner.
"Wo befinden sich denn die Wildsorten? Sie stammen aus Peru und Bolivien. In Chile gibt es keine einzige wilde Kartoffel, aus der essbare Formen gezüchtet worden sind."
Alberto Salas ist einer der führenden Ingenieure des CIP, des Centro Internacional de la Papa in Lima. Das Internationale Kartoffel-Institut in der peruanischen Hauptstadt, ist das weltweit renommierteste Forschungsinstitut für Kartoffeln. Salas arbeitet seit der Gründung des CIP 1971 in dem Institut. Er ist davon überzeugt, dass die Kartoffel aus den rauen Bergregionen der Anden stammt und nicht von der entlegenen chilenischen Insel Chiloé.
"Vor etwa 2000 Jahren haben sich die Wildsorten innerhalb Südamerikas verteilt. Und so kamen einige auch nach Chile. Aber sie kamen erst nach Chile, nachdem in den Andenregionen schon viele Wildsorten kultiviert wurden. Der Ursprung der Kartoffel liegt am Titicacasee, in Peru und Bolivien."
Von Südamerika in die ganze Welt
Fest steht nur eines: Die Kartoffel ist der Schatz Südamerikas, von diesem Kontinent aus hat sie ihren Siegeszug in die ganze Welt angetreten. Im Hochland von Peru ernährt sie die Menschen schon seit Jahrhunderten. Die Inkas, vermutlich sogar schon deren prä-kolumbische Vorfahren, jetzt die Campesinos. Und sie ehren ihren Schatz. Etwa 50 Kilometer von Cusco entfernt gibt es sogar einen Kartoffel-Nationalpark, den "Parque de las Papas". Sechs Gemeinden haben ihn 1998 auf einer Fläche von 9200 Hektar gegründet. 5400 Menschen leben in dem Gebiet. Hier dreht sich alles um die "papas andinas", die traditionellen peruanischen Kartoffeln aus den Anden. Vorhandene Sorten werden registriert, geprüft und erforscht. Die Campesinos, die Landarbeiter sind aber auch Kartoffeljäger, immer auf der Suche nach neuen Wildsorten. Mariano Setu ist einer von ihnen. Zu Beginn war es für ihn ungewohnt, im Kartoffel-Nationalpark für die Artenvielfalt zuständig zu sein und Touristen die Vorzüge der Knolle näher zu bringen.
"Am Anfang, als wir hier mit unserer Arbeit begannen, gab es durchaus Schwierigkeiten. Viele von uns konnten sich gar nicht vorstellen, was ein Kartoffel-Nationalpark ist. 'Was sollen wir da machen?', fragten sich viele. Aber die Nichtregierungsorganisation ANDES unterstützte uns, bildete die Campesinos aus, und da wurde vielen klar, dass wir auf ökologischen Anbau setzen, völlig ohne Chemie und Gentechnik. Wir respektieren Pachamama und kombinieren traditionelle mit wissenschaftlichen Methoden."
Etwa 1000 Kartoffelsorten findet man alleine im Kartoffelpark. Die extreme Höhe – der Nationalpark liegt zwischen 3600 und 4600 Metern Meereshöhe – macht den Nationalpark auch für andere Länder interessant. Erst kürzlich kamen Bauern und Wissenschaftler aus Tadschikistan in die Region, berichtet Mariano Setu voller Stolz.
"Die Tadschiken konnten wertvolle Erfahrungen machen. Ich habe selbst gesehen, dass sie dort in den hohen Regionen des Pamir-Gebirges inzwischen unsere Kartoffeln anbauen. Sie haben es geschafft, die 'papas nativas' dort zu kultivieren. Und das ist wegen des Klimawandels sinnvoll. Für uns ist es eine große Anerkennung, dass sie dort nun gute Kartoffelernten haben."
Sie sind mächtig stolz auf ihren Schatz, die Campesinos aus dem peruanischen Hochland. Nazario Quispe, ein einfacher Kartoffelbauer aus Paru Paru, einer der Gemeinden, die im Nationalpark liegt, durfte sogar nach Rom zu einer Tagung der Welternährungsorganisation reisen, um dort - in seiner indigenen Sprache Quechua – die 'papas andinas' vorzustellen. Ein Erlebnis, das er nicht vergisst. Und er weiß, was er und seine Mitstreiter der kleinen Knolle zu verdanken haben.
"Für uns ist der tägliche Umgang mit den Kartoffeln elementar. Wir überleben dank der Knollen. Ohne sie könnten wir unsere Kinder nicht großziehen und sie zur Schule schicken. Ohne die Kartoffeln wäre für uns hier im Hochland kein Leben möglich. Und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Vielfalt der 'papas andinas' zu erhalten und auszuweiten."
Kooperation der Kleinbauern untereinander
Auch auf der entlegenen chilenischen Pazifik-Insel Chiloé sind es vor allem Kleinbauern, die die Tradition der "papas nativas" pflegen. Chiloé liegt gebettet in ein sattes Grün, es regnet viel im kühl-feuchten Pazifikklima. Nur die Hauptstraßen sind asphaltiert. Zu den meisten Kartoffelbauern führen holprige Schotterwege, auch zu Mirna Salivia Pérez. Die Bäuerin selbst hat nur etwas mehr als einen Hektar, auf dem sie die Kartoffeln anbaut. Sie setzt auf die Vielfalt. Je mehr Sorten, desto besser. Ihr Handwerk hat sie von den Eltern gelernt.
"Die Wissenschaftler meinen, man sollte die einzelnen Sorten getrennt anbauen. Aber mein Vater lehrte es mich anders. Er sagte, wenn ich die Kartoffeln getrennt anpflanze werde ich viele Sorten verlieren. Er gab mir den Rat, sie durcheinander anzupflanzen. Das führt dazu, dass sich die einzelnen Sorten stärken und vor Schädlingen wappnen."
Kennzeichnend für den Kartoffelanbau auf Chiloé ist auch die Kooperation der einzelnen Kleinbauern untereinander. Um die Sortenvielfalt zu bewahren hilft man sich aus. Auch Mirna Salivia Pérez geht regelmäßig zu ihren Nachbarn um andere Sorten zu bekommen, die sie dann auf ihrer Parzelle anpflanzt.
"Wenn wir uns hier eigensinnig verhalten führt das nur dazu, dass wir bestimmte Sorten verlieren werden. Um die Tradition zu bewahren müssen wir solidarisch sein."
Die Kleinbauern auf Chiloé verzichten auf ihren Parzellen auf jegliche Chemie, setzen auf natürlichen Dünger, etwa auf Seetang, den sie bei Ebbe selbst vom Strand holen. Sie verkaufen ihre einheimischen Kartoffeln hauptsächlich auf kleinen Märkten, immer häufiger aber auch in die Hauptstadt Santiago, wo inzwischen sogar Spitzenköche auf die "papas nativas" schwören.
Auch bei Mirna Salivia kommen die heimischen Kartoffeln fast täglich auf den Tisch. Frittiert, als Bratkartoffeln, sind sie köstlich, doch es gibt noch zig andere Zubereitungsarten. Die Vielfalt kennzeichnet eben die "papa nativa" aus Chiloé. Und da unterscheidet sich die Knolle von der chilenischen Insel Chiloé gar nicht von den Kartoffeln aus dem peruanischen Hochland. Kleinbäuerin Mirna ist stolz darauf.
"Wenn wir diese ursprünglichen Kartoffeln verlieren, würden wir Chilotes unsere Tradition verlieren. Wir würden etwas falsch machen."