Die Vermessung der Welt
Einst dienten Weltkarten der religiösen Erbauung, heute finden wir per GPS jeden Ort auf der Erde: Eine Ausstellung im Schloss Brake in Lemgo erzählt die Geschichte der Kartografie.
"Schauen Sie mal hier im Kreuz, da ist Jerusalem. Natürlich genau im Mittel, der Nabel der Welt. Man sieht schon daher, dass diese Karte anderen Zwecken diente als Orientierung zu bieten. Berg Sinai, darüber, wenn wir noch weiter nach oben gehen, die Mondberge. Wenn man nach unten geht – der Berg Ararat soll das sein und die Arche Noah. Das Ganze ist schematisch aufgebaut nach dem christlichen Weltbild."
Rolf Schönlau ist Co-Kurator der Kartografie-Ausstellung "Weltvermesser", und er beschreibt das Weltbild einer Mappa Mundi– einer Weltkarte, wie sie um 1300 herum die vorher übliche Skizze ablöste, die im Mittelalter als "Karte" durchging, obwohl sie zur Erbauung des frommen Christen gern in Gebetbücher eingefügt wurde. Die Welt als Kreis (wie ein "O"), darin, wie die Balken des Buchstaben "T", die Flüsse Nil und Don und das Mittelmeer, die Asien, Europa und Afrika voneinander trennen. Und jenseits von Asien im Osten, liegt das Paradies. Weshalb die alten Karten auch nicht genordet, sondern geostet waren.
Weltkarten erzeugen Weltbilder – doch zuerst erzeugten die Weltbilder die Karten. Zum Reisen in der realen Welt waren die aber weder geeignet noch gedacht, eher zur Orientierung im christlichen Heilssystem. Und wonach sich Heinrich IV. orientiert hatte, als er im 11. Jahrhundert nach Canossa ging, oder - fast drei Jahrhunderte früher - Karl der Große, als er beim Erobern durch die europäischen Wälder taperte, das kann man heute nicht mehr bestimmt sagen.
"Gereist ist man ja im Mittelalter: Stellen Sie sich vor, Sie wollten aus Detmold herausfahren. Sie fuhren durchs Hornsche Tor und kamen nach Horn. Das war alles ganz einfach. Also man hat die Tore benannt nach dem nächsten Ort. Es wurde von Ort zu Ort gefahren. Und dann gab´s eben Reisebüchlein, da waren Orte aufgezeichnet und rechts daneben die Anzahl von Meilen zum nächsten Ort. Und so ist man gereist im Mittelalter, mit solchen Büchlein."
So klein wie eine Zigarettenschachtel, die passten gut unters Wams: So was hatten die Kaufleute und die Pilger. Bis die erste Straßenkarteauftauchte, dauerte es noch.
"Die erste Straßenkarte Europas, da sehen Sie zum ersten Mal Straßen. Nirgendwo anders sind Straßen drauf. - Von? - 1501!"
Jeder Punkt ist eine Meile, man konnte also sogar die Entfernungen messen.
"Und wenn man sich dann halbwegs zurechtgefunden hat, dann hat man da Paderborn und Soest. Sie kennen den Hellweg, und da gibt es Paderborn, ich muss jedes mal suchen, wo es is – da, da, da ist es! Und da ist Soest, so. Und wenn man diese Pünktchen zählt und immer mit einer Meile multipliziert, dann stimmt das auf 150 Meter. Ist doch erstaunlich, nicht?"
Die Weltbilder blieben Experimente der menschlichen Vorstellungskraft
Das Sich-Bewegen in der Welt wurde nachvollziehbarer. Aber das Kartenbild blieb auch nach dem Mittelalter noch eine Weile diffus.
In der Renaissance wurden dann aber die ausführlichen Geografiebücher des griechischen Gelehrten Ptolemäus wieder ausgegraben. Die von ihm beschriebene Welt reichte von den kanarischen Inseln bis nach China und von Schottland bis nach Zentralafrika. Doch die nach seinen Angaben gefertigten Karten waren weder zum Navigieren geeignet noch zur Landreise, eher – um sie sich als Schmuck an die Wand zu hängen. Vor allem die Abstände waren viel zu kurz, weshalb Kolumbus ja auch in Amerika landete statt in Asien.
Es kamen Kugeln in Mode, auf die die Landkarten aufgeklebt wurden: Globen, ebenso die Idee, die völlig unterschiedlichen formatierten Karten auf Pergament zu einem Buch zusammenzufassen, das bald Atlas genannt wurde. Aber die Weltbilder blieben auch Experimente der menschlichen Vorstellungskraft – selbst als die Karten immer präziser wurden.
"Je mehr man zu den Rändern hinging, desto fantastischer wurde es. Da steht zum Beispiel: Hic sunt homines monopedes cursus velocissimi – also: Hier sind einbeinige Menschen, die sehr schnell laufen können. Hier unten sind Trolle und so weiter..."
Aber dann: Die alles umstürzende Aufklärung! Deren Weltbild zeichnet sich in der Kartografie dadurch aus, dass es sich vom Bildlichen verabschiedet, von der Inszenierung und der Imagination.
"Da entstanden dann, was wir weiße Flecken auf der Landkarte nennen: Da hat man sie bewusst gelassen. Wenn ich nichts weiß, lass ich’s weiß, haben die da gesagt – während man vorher ein Monster reingemalt hat."
Es verschwanden die Monster und nach und nach auch die Inseln, die es nicht gibt, und ab 1800 wurde in Frankreich (und später überall in der zivilisierten Welt) das ganze Land trianguliert. Die offiziellen Vermessungspunkte finden wir heute noch als graue Plastikscheiben auf den Bürgersteigen. Aber das in der Geografie wohnende Weltbild, das noch Raum für menschliche Unsicherheiten bot, wurde ab da - nur noch verwaltet.
Heute ist mit GPS die Spitze der verwertbaren Genauigkeit erreicht, und die Wirklichkeit sieht wenig eindrucksvoll, dafür exakt aus. Und dennoch: Am Tag meines Museumsbesuches reparierten Bauarbeiter gerade den Torbogen des Renaissanceschlosses in Lemgo: Ein LKW war reingebrettert. Der Fahrer hatte sich an dem Navigationsgerät für PKW orientiert.
Die Ausstellung "Weltvermesser. Das goldene Zeitalter der Kartographie" ist noch bis zum 6. Dezember 2015 im Weserrainnance-Museum in Lemgo zu sehen.