Kaschmir-Konflikt in Indien

Radikalisierung von Hindus und Muslimen

24:10 Minuten
Ein Bewohner in der Region Kashmir steht vor sienem zerstörtem Haus.
Die Menschen im Kaschmirtal in Indien kommen seit vier Monaten nicht zur Ruhe. © AFP/ Sajjad Qayyum
Von Antje Stiebitz |
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Am 5. August verlor der indische Bundesstaat Kaschmir seinen Sonderstatus. Bis heute riegelt das indische Militär die Region ab. Wie blicken Hindus und Muslime aus Kaschmir auf die neue politische Situation?
Im Islamischen Kulturzentrum in Neu-Delhi. In der Ecke eines Cafés sitzen vier Männer. Einer von ihnen trägt eine Gebetskappe und Kurta Pajama, die traditionelle muslimische Kleidung. Er ist gerade aus Kaschmir zurückgekommen, berichtet, was er dort erlebt und gesehen hat. Die anderen hören ihm gebannt zu. Einer der Männer im Café ist Rakesh Sapru. Der Geschäftsmann ist ein sogenannter Kaschmir-Pandit. Er stammt aus Kaschmir und ist Hindu. Seit Februar 1990 lebt der 59-Jährige in Delhi. Denn damals zwangen militante Islamisten Hundertausende Hindus zur Flucht, bezeichneten sie als Kafir, als Ungläubige.
"Sie kamen mit Waffen und töteten zwei, drei Menschen", erinnert sich Rakesh Sapru. "Sie trugen Masken und begannen Kaschmir-Pandits umzubringen. Die Mehrheit in Kaschmir besteht aus Muslimen und sie kämpfen für ein von Indien unabhängiges Kaschmir oder wollen ein Teil Pakistans werden."
Porträt von Rakesh Sapru.
Der Geschäftsmann Rakesh Sapru ist ein sogenannter Kaschmir-Pandit – er stammt aus Kaschmir und ist Hindu. © Deutschlandradio/ Antje Stiebitz
Innerhalb von sieben Tagen flohen damals 100.000 bis 400.000 Menschen – je nach Quelle schwanken die Zahlen stark. Die meisten Familien aus dem Kaschmir-Tal zogen um ins benachbarte Jammu oder nach Delhi. Rakesh Sapru hat sich inzwischen ein neues Leben aufgebaut, trotzdem schmerzt ihn die Erinnerung.
"Ein Haus ist nicht schnell gebaut. Mehrere Generationen sind daran beteiligt. Unsere Gefühle wurzeln tief im Kaschmir-Tal. Wir hatten dort Eigentum und haben unsere ganze Kindheit dort verbracht. Und eines Nachts musst du plötzlich alles zurücklassen."

Abschaffung des Sonderstatus "ein Meisterstück"

Die Abschaffung des Artikels 370 durch die Regierungspartei BJP hält Rakesh Sapru für ein Meisterstück. Allerdings, fügt er hinzu, wäre es besser gewesen, die Entscheidung vorher mit den Menschen vor Ort zu diskutieren. Kann er sich vorstellen, ins Kaschmir-Tal zurückzukehren?
"Das würde ich sehr gerne tun. Aber was zählt, ist die Sicherheit für meine Familie und für mich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es morgen soweit ist. Das kann Jahre dauern."
Unweit des Geschäftszentrums Connaught Place befindet sich das gewaltige Hauptquartier der Regierungspartei BJP. In einem der unzähligen Zimmer sitzt der BJP-Generalsekretär, Murlidhar Rao, hinter seinem Schreibtisch. Die Abschaffung des Artikels 370 sei seit der Gründung Indiens nationaler Konsens gewesen, argumentiert der Politiker.
"Als der Artikel in die Verfassung aufgenommen wurde, versprach Premierminister Jawaharlal Nehru dem ganzen Land und seinen Bewohnern, dass dieser Artikel zeitlich begrenzt ist und nicht für ewig bestehen wird. Das war ein Versprechen, das unser erster Premierminister nach der Unabhängigkeit im November 1963 machte."
Aus seiner Sicht hat der Artikel 370 die Integration der Menschen aus dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir in Indien verhindert. Bislang habe es dort beispielsweise keine Kastenreservierungen gegeben, wie in allen anderen Bundesstaaten. Außerdem verloren Frauen ihre Bürgerrechte, wenn sie einen Mann heirateten, der nicht aus Jammu und Kaschmir stammt. Solche sozialen Diskriminierungen seien jetzt abgeschafft. Und Firmen, die in Jammu und Kaschmir investieren wollen, könnten endlich Land kaufen.

"Gewalt in Kaschmir wird von Pakistan gefördert"

"Man muss verstehen, dass das Problem in Jammu-Kaschmir nichts mit der Abschaffung des Artikels 370 zu hat. Wir haben in Kaschmir ein Problem, weil es Gewalt gibt, die von Pakistan gefördert wird. Die Terroristen, die von Pakistan gepflegt und trainiert werden, machen in Jammu-Kaschmir Probleme."
Die Mehrheit der Kaschmirer sei mit der Abschaffung des Artikels 370 einverstanden, weil sie Entwicklung wollen, erklärt Murlidhar Rao. Die Abriegelung Kaschmirs bezeichnet er als Fehlinformation: "Anfänglich riegelten wir Kaschmir ab, aber jetzt herrscht dort wieder völlige Normalität."
So ganz normal dann doch nicht, denn warum dürfen ausländische Journalisten bis heute nicht nach Kaschmir einreisen?
Eine Statue in traditionellem Gewand steht für Gläubige und Besucher in einem Tempel.
Kaschmir war bereits Zankapfel buddhistischer, hinduistischer und muslimischer Herrscher.© Deutschlandradio/ Antje Stiebitz
Das Kaschmir-Tal war bereits vor unserer Zeitrechnung Schauplatz von religiösen Disputen, Bekehrungen und ständig wechselnden Allianzen. Stritten zunächst Hindus und Buddhisten um die Vorherrschaft, beanspruchten ab dem 13. Jahrhundert zunehmend muslimische Machthaber das Land.*) Trotz unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Weltanschauung entwickelten die rund acht Millionen Bewohner der Region eine eigene Identität, die als Kaschmiriyat bezeichnet wird. Das Kaschmiriyat beruht darauf, Andersartigkeit anzunehmen und in sie einzutauchen.

Volksabstimmung wurde nie durchgeführt

Mit der Teilung Indiens im Jahr 1947 musste sich der Fürstenstaat Jammu und Kaschmir entscheiden, ob er sich Indien oder Pakistan anschließt. Der Maharaja von Jammu und Kashmir, Hari Singh, wollte zunächst die Unabhängigkeit Kaschmirs wahren. Doch nachdem muslimische Aufständische nach Kaschmir drangen und für einen Anschluss an Pakistan kämpften, erklärte Hari Singh, dass Kaschmir von nun an zu Indien gehöre.
Im Januar 1948 brachte Indien die Kaschmir-Frage vor die Vereinten Nationen. Und der UN-Sicherheitsrat forderte beide Konfliktparteien auf, einen Waffenstillstand zu verhandeln. Anschließend sollte eine Volksabstimmung durchgeführt werden. Doch dazu kam es nie.
"Die Märkte sind geschlossen, keiner verdient etwas. Das Bildungswesen liegt lahm, Schulen, Hochschulen und Universitäten sind geschlossen. Die Menschen können nicht aus ihren Häusern kommen. Sie sind mental zunehmend verstört."
Yasin Mir sitzt auf dem Rasen vor dem Nehru Museum in Neu-Delhi. Der IT-Auszubildende ist Muslim und möchte nur unter Pseudonym genannt werden. In seinen Augen spiegelt sich Melancholie. Zwei Monate lang konnte der 24-Jährige nicht mit seiner Familie in Kaschmir kommunizieren. Doch jetzt hat er sie gerade für ein paar Tage besucht. Für junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren, davon ist Yasin Mir überzeugt, sei der Ausnahmezustand besonders schwierig, weil ihre Ausbildung Schaden nimmt. Was passiert, wenn die Menschen ihre Häuser wieder verlassen dürfen?
Pakistanische Demonstranten gehen mit antiindischen Parolen auf die Straße.
Die Proteste gegen die Blockade von Kaschmir werden immer lauter.© AFP/ Asif Hassan
"Die Menschen werden gewaltbereiter sein als vorher. Sie haben Angst davor, dass es wie in Palästina Siedlungen geben wird. Die Menschen fürchten, dass sie aus ihren Häusern geworfen werden und zu einer Minderheit werden. Momentan sind wir die Mehrheit, aber wir könnten zur Minderheit werden."
Yasin Mir sieht sich nicht als Inder, sondern als Kaschmirer. Aus seiner Sicht wollen rund 80 bis 90 Prozent der Kaschmirer nicht mehr zu Indien gehören. Auch er beruft sich auf den ersten Premierminister Indiens, genau wie der BJP-Politiker Murlidhar Rao.
"Uns wurde versprochen, von Jawaharlal Nehru, dem ersten Premierminister Indiens, dass wir die Freiheit haben würden zu entscheiden, ob wir mit Pakistan oder mit Indien leben wollen. Das wurde Volksabstimmung genannt. Aber dazu ist es nie gekommen."

Junge Männer werden durch Indiens Militär radikalisiert

Die indische Armee dränge insbesondere junge Männer in die Radikalität, erklärt Yasin Mir. Die Kaschmirer fühlten sich von Indien entfremdet, weil sie das Militär belästige, beschäme und foltere.
Der Hindu Rakesh Sapru manövriert sein Auto über eine holprige Straße in Sahidabad. In der Satellitenstadt von Delhi ließen sich nach ihrer Flucht rund 4000 Hindu-Familien aus Kaschmir nieder. Rakesh Sapru ist mit einem alten Freund verabredet, der ihn am Telefon die letzten Meter zum Kheer Bhavani Tempel dirigiert.
Vor dem Tempel treffen wir Satish Tusu. Wie die meisten Kaschmir-Pandits kam er 1990 nach Sahidabad. Der Rechtsanwalt bleibt vor dem Bildnis der rot-gold gekleideten Hindu-Göttin stehen. "Das ist die Göttin Kheer Bhavani. Sie ist aus Kaschmir."
Der Tempel hier, erklärt er, sei dem Kheer Bhavani Tempel in Kaschmir nachgebildet. Der dortige Tempel sei von einem See umgeben, dessen heiliges Quellwasser die Eigenschaft habe, seine Farbe zu verändern. Als die Kaschmir-Pandits damals aus ihrer Heimat flohen, habe sich das Wasser schwarz verfärbt. Ein böses Omen.
Seit Premierminister Narendra Modi am 5. August den Artikel 370 annullierte, sei die Farbe des Tempel-Sees hingegen pink. Ein gutes Zeichen, davon ist Satish Tusu überzeugt:
"Die Zentralregierung arbeitet gerade wie ein Arzt. Die Führer der Kaschmirer blockierten die Wahrnehmung der Bevölkerung. Aber nachdem der Artikel aufgehoben wurde, können die Kaschmirer erkennen, was sie gewinnen. Der Artikel 370 war wie ein Vorhang, der ihre Sicht behinderte."

Kaschmir: Für ausländische Journalisten gesperrt

Sheikh Shokat Hussein ist Professor für internationales Recht und Menschenrechte und unterrichtet an der Kaschmir Universität in Srinagar. Da ausländische Journalisten momentan nicht nach Kaschmir einreisen dürfen, telefonieren wir.
"Kaschmir steht unter Schock, weil es eine Vereinbarung gab, dass die indische Verfassung nur dann für Jammu und Kaschmir gilt, wenn der Bundesstaat auch zugestimmt hat. Diese Übereinkunft wurde gebrochen. Kaschmir wurde verraten und die Verfassung Indiens wurde einseitig auf Jammu und Kaschmir erweitert."
Sheikh Showkat Hussein ist nicht nur von der indischen Regierung enttäuscht, sondern auch von der Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft. Er habe sich immer dafür eingesetzt, dass die Kaschmirer ihre Anliegen innerhalb der Menschenrechte vorantreiben. Doch er beobachte zunehmend, dass sich die gepeinigten Kaschmirer radikalisieren. "Extremistische Gruppierungen profitieren von dem Gefühl der Benachteiligung."
Die Gemeinschaft der Kaschmirer sei bis Mitte der 1980er-Jahre pluralistisch und tolerant gewesen. Schreibt Bashir Assad, Journalist, Autor und Aktivist aus Kaschmir, und Muslim. Danach sei eine schleichende Islamisierung und Radikalisierung spürbar geworden. Schuld daran seien die Mullahs, die islamischen Kleriker Kaschmirs. Mit dem Exodus der Kaschmir-Pandits habe sich Kaschmir zu einer homogenen Gesellschaft entwickelt. In der nicht mehr verschiedene Religionen konkurrieren, sondern verschiedene islamische Gruppierungen. Das Handeln der indischen Armee ist die Antwort auf die importierten Kämpfer aus Pakistan, meint Bashir Assad, der ansonsten für das indische Militär wenig übrig hat.

"Ich wünsche mir ein Kaschmir für alle"

Im Paiwand Studio klappert ein Webstuhl, mannshoch und aus Holz. Das Textil-Studio liegt in der Industriestadt Noida südöstlich von Delhi. Hier arbeitet der Designer Wajahat Rather. Der 37-jährige Muslim stammt aus Kaschmir und hat das Mode-Label "Raffughar" gegründet. Für seine Kollektionen spielt seine kaschmirische Herkunft eine entscheidende Rolle, denn in seinen Entwürfen lebe die Seele Kaschmirs.
Der Designer Wajahat Rather sitzt vor einem Haus.
Der Designer Wajahat Rather wünscht sich ein offenes und tolerantes Kaschmir. © Wajahat Rather
"Ich wünsche mir ein Kaschmir für alle", sagt er. "Ein Kaschmir, in das die Hindus wieder zurückkommen können. Wo es Sikhs gibt und alle anderen Glaubensrichtungen. Wenn es an einem Ort mehr als eine Religion gibt, dann entsteht eine liberale Atmosphäre."
Wajahat Rather lehnt einen intoleranten Islam genauso ab wie die aktuelle Politik der indischen Regierungspartei BJP. Denn die habe ihm und seinen Landsleuten ihre Würde genommen. Wochenlang konnte Wajahat nicht mit seiner Familie telefonieren und sorgte sich um die kranke Mutter.
"Ich denke, die Regierung sollte das Vertrauen der Menschen gewinnen, nicht erzwingen. Du kannst die Menschen nicht in ihre Häuser sperren und sagen: Oh, das wird gut für euch sein. Sogar ein kleines Tier schlägt zurück, wenn man beginnt, es zu ärgern."
Die indische Journalistin Sonia Sarkar lebt in einer gigantischen Hochhaussiedlung in Noida. Nur wenige Tage nach der Annullierung des Artikels 370 reiste sie ins abgeriegelte Kaschmir-Tal und brachte erste Eindrücke mit. Die 35-Jährige berichtet seit mehr als einem Jahrzehnt über Kaschmir. Die Entwicklungen der letzten Monate machen ihr Sorge, weil sie das politische Vorgehen der BJP vor allem als demonstratives Dominanzverhalten versteht, dessen Botschaft laute: "Wir können die Menschen dafür bestrafen, dass sie die Militanten und Pakistan unterstützen. Wir kontrollieren Kaschmir jetzt. Und zwar komplett."
Eine neue Entwicklung sei auch, dass die Moscheen beobachtet werden und zahlreiche Imame inhaftiert wurden. "Es gibt Razzien in den Moscheen. Da die indischen Behörden davon ausgehen, dass dort die Radikalisierung stattfindet. Wer in die Moschee geht und betet, wendet sich nicht an Gott, sondern erfährt Radikalisierung. Das ist der Ort, wo die Menschen anti-indisches Gedankengut aufnehmen."
In den letzten Jahren habe sie Kaschmirer oft über Selbstbestimmung sprechen hören, sagt die Journalistin. Doch kaum einer wollte zu Pakistan gehören. Seit dem 5. August allerdings werde der pakistanische Premierminister Imran Khan vor allem von jungen Menschen als Held gefeiert. "Sie denken, dass Pakistan der einzige Retter der Kaschmirer ist."

*) Wir haben an dieser Stelle eine historisch unpräzise Darstellung korrigiert.
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