Katalonien und die Coronakrise

Autonom und angeschlagen

30:50 Minuten
Pflegekräfte stehen am 25. März vor einem Krankenhaus in Barcelona und applaudieren.
Spanische Pflegekräfte bedanken sich für Applaus. Lieber wäre ihnen mehr Geld. © imago images/ZUMA Wire/JordiBoixareu
Von Julia Macher · 09.04.2020
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Katalonien ist nach Madrid der größte Corona-Krisenherd in Spanien. Die Regionalregierung verlangte von Ministerpräsident Sánchez sogar die Isolierung der Region. Nun steht alles still. Außer beim Autokonzern SEAT. Der stellt jetzt Beatmungsgeräte her.
Jeden Abend pünktlich um acht öffnen sich Fenster und Balkontüren. Meine Nachbarn treten nach draußen und applaudieren den Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern. Als das alte Ehepaar von gegenüber – sie in Kittelschürze, er mit der immer gleichen graubraunen Strickjacke – auf den Balkon tritt, erhält es einen Extraapplaus.
Ein Mann spielt Bass auf einem Balkon in Barcelona.
Ein Mann spielt Bass auf einem Balkon in Barcelona. Wegen der Coronapandemie dürfen auch in Katalonien die Menschen nicht aus dem Haus.© picture alliance/ZUMA Press
Genauso wie die Frau von der Stadtreinigung, die gerade die Müllcontainer abspritzt, die Kassierer vom Supermarkt, die – mit anderthalb Meter Sicherheitsabstand und am Kinn baumelnden Mundschutz – eine letzte Feierabendzigarette rauchen, das Polizeiauto, das im Schritttempo mit dem blinkenden Schriftzug "Danke fürs Zuhausbleiben" durch die Straße fährt, die Pizza-Lieferanten, die mithupen.

In dieser Podcast-Folge der Weltzeit berichtet unser Korrespondent Marc Dugge auch, wie die Spanier mit einer der striktesten Ausgangssperren weltweit leben.

Das Acht-Uhr-Ritual ist für die meisten inzwischen ein Stück lieb gewordener Alltag. Für David de la Rosa gehört es zu den schönsten Momenten des Tages. Der Lungenfacharzt im Hospital de la Sant Pau arbeitet seit fast einem Monat 50 bis 60 Stunden pro Woche. 400 der 500 Betten der Klinik sind mit Covid-19-Patienten belegt, die Betten in der Intensivstation hat man von 30 auf über 100 aufgestockt. Müde schaltet er die Computerkamera an, unter den braunen Augen sind dicke schwarze Ringe.
"Ich arbeite seit 20 Jahren als Lungenfacharzt, aber solche überraschenden Verläufe habe ich noch nie gesehen: Patienten schienen sich nach zwei, drei Tagen Fieber zu stabilisieren, doch dann verschlechterten sie sich in zwölf, 24 Stunden rapide – ohne Erstickungsgefühle zu haben. Dazu kam der Materialmangel: Natürlich kann kein Krankenhaus der Welt so viele OP-Masken, so viele Beatmungsgeräte bunkern, wie wir gebraucht haben – aber etwas vorausschauender hätte man nach dem Beispiel Italien schon planen können."

Dauerzank zwischen Katalonien und Zentralregierung

Katalonien ist nach Madrid der größte Krisenherd der Pandemie. Die Frage "Hätte man es besser machen können?" hat hier auch eine politische Dimension. Nach dem die spanische Regierung den Alarmzustand verhängt hatte, lieferte sich die separatistische Regionalregierung mit Madrid ein Tauziehen um Kompetenzen.
Zwei Männer desinfizieren in Terrassa, Barcelona.
In Spanien wird in Barcelona grroßflächig desinfiziert.© picture alliance / AFP7
In einem BBC-Interview warf Regionalpräsident Quim Torra – ein glühender katalanischer Nationalist – der Regierung Sánchez vor, die Ausgangssperre sei zu lasch und forderte, Flughäfen und Bahnhöfe stillzulegen und die Region vom Rest des Landes zu isolieren. Als "politische Instrumentalisierung" empfanden das damals viele, auch in Katalonien. David de la Rosa rollt genervt mit den Augen.
"Weil die Welle hier etwas später ankam, konnten wir uns besser vorbereiten, fachfremde Ärzte anlernen – aber ansonsten ist die Situation überall die gleiche."
Inzwischen ist der Dauerzank zwischen Madrid und Barcelona aus den Schlagzeilen verschwunden. Seit zwei Wochen steht die Wirtschaft in ganz Spanien still, auch in der wohlhabenden Region Katalonien. Fast überall:

SEAT baut nun Beatmungsgeräte

Mit einer Sondergenehmigung produziert der spanische Autofabrikant SEAT Beatmungsgeräte für spanische Krankenhäuser, bis zu 300 Stück pro Tag. Wo früher die Querachsen für die Unterkarosserie des SEAT Leon gebaut wurden, werden jetzt Metallteile gefalzt, Pumpen und Schläuche zusammengesteckt.
Normalerweise arbeiten in der weitläufigen Werkhalle in Martorell Hunderte Menschen. Jetzt stehen – mit Mundschutz und Handschuhen – gerade einmal drei Dutzend am Fließband: Wie viele Unternehmen hat auch SEAT fast alle der über 14.800 Angestellten vorübergehend arbeitslos gemeldet. Ausnahmeregelungen gibt es nur für die Verwaltung- und alle, die jetzt Beatmungsgeräte fertigen.
Als die ersten der etwa einen halben Meter großen, silbernen Kästen in Kartons verpackt werden, applaudieren die Mitarbeiter für die Fernsehkameras. Auch Christian Vollmer klatscht mit. Der stellvertretende Produktionschef hat das Gerät mitentwickelt.
"Wir wollten das Rad nicht neuerfinden, sondern wir haben überlegt: Vielleicht gibt es ja ein paar Verrückte, ein Start Up, die eine Idee haben. Und tatsächlich gab es dann eines in Barcelona, mit dem haben wir zusammengearbeitet. Dann haben wir gemeinsam diese Maschine – wir sind heute bei Version 14 – weiterentwickelt, Tests an Schweinen, Tests an Menschen gemacht und haben das soweit bekommen, dass wir letzte Woche eine Genehmigung bekommen haben, die einzusetzen."
Menschen mit Atemschutzmasken stehen in einer Produktionshalle. Im Vordergrund steht ein großer Metall-Apparat mit Schlauch auf dem "Oxygen" und "Hope" steht.
Kostenlose Hilfe in der Not – Autofabrikant SEAT produziert 300 Beatmungsgeräte pro Tag.© daniaznar, Seat
Betrieben werden die Maschinen von einem Scheibenwischermotor. Auch fast alle anderen Bestandteile stammen aus dem Lagerbestand des Autoherstellers. Die Bauanleitung kommt ins Netz: zum Nachmachen. OxyGEN – so der offizielle Name des Apparats – ist ein Open Source Projekt.
"Wir haben wenig Elektronik drin, keine Software: Es ist sehr einfach mechanisch konstruiert – und das war mir auch immer wichtig, hier etwas zu kreieren, was auf der ganzen Welt mit ein bisschen Know-how nachbaubar ist. Es ist für den Notstand, für die aktuelle Situation – aber diese Situation haben wir in vielen Ländern und sie wird in vielen Ländern noch schlimmer."
Was für SEAT dabei rausspringt? Vollmer wirkt verblüfft: Die Geräte würden natürlich kostenlos abgegeben.

Hotelverband stellt 1400 Betten für Patienten

Der Autofabrikant ist nicht der einzige, der in der wirtschaftsstarken Region im Nordosten unternehmerische Überlegungen vorübergehend hintenanstellt. Barcelonas Hotelverband hat 1400 Betten zur Verfügung gestellt: Für Patienten, die keine ärztliche Betreuung mehr benötigen – aber auch nicht nach Hause können, etwa weil sie mit Menschen aus der Risikogruppe zusammenleben. "Hotel Salut", "Hotel Gesundheit" heißt die Initiative.
Die Idee dazu hatte José Maria Trenor. Der Vizepräsident von Barcelonas Hotelverband hat als erstes sein Fünf-Sterne-Hotel Cotton House umgerüstet. Vor dem Eingang des Luxushotels, dort, wo normalerweise ein roter Läufer liegt, parken jetzt Krankenwagen. Vor der marmornen Wendeltreppe warten Krankenschwestern und freiwillige Helfer auf Patienten. Das zeigen Fotos. Ein Vor-Ort-Besuch ist wegen der Ausgangssperre nicht möglich. Für das Interview schaltet sich Trenor über seine Computerkamera zu. Der Unternehmer sitzt in Polohemd und Pullover auf seinem Sofa und strahlt übers ganze Gesicht. Er war gerade für ein paar Stunden im Hotel, um nach dem Rechten zu sehen.
"Wir tragen alle Schutzanzüge und halten immer zwei Meter Abstand, aber trotzdem sind wir unseren Patienten-Kunden sehr nah. Die Gäste – alles leicht Erkrankte auf dem Weg zu Besserung – schreiben uns Dankesbriefe und kleine Botschaften. Manche wollen bestimmt nie wieder weg!"
Ein Mann mit Atemmaske und Schutzkittel kommt aus dem Eingang des "Cotton House Hotels".
Das "Cotton House Hotel" war das erste Hotel in Spanien, das zu einem Krankenhaus umfunktioniert wurde.© picture alliance/GTRESONLINE
Trenor schickt einen Videoclip: Im Cotton House wird Bingo gespielt. Der Manager ruft vom palmenbestandenen Innenhof Zahlen nach oben, die Mitspieler lehnen im Bademantel an den Balkonen und antworten fröhlich mit "Bingo", wenn die Ziffern mit denen auf ihrem Notizblock übereinstimmen. Ein Stück Hotelalltag unter Ausnahmebedingungen. Ein Stück "neue Normalität", sagt Trenor.
Wir werden diese Krankheit alle früher oder später bekommen – also müssen wir den Umgang mit ihr normalisieren, vernünftig reagieren und die Angst davor verlieren.
Für den Hotelier ist die Benefizaktion nicht nur Imagepflege, sondern auch eine Investition in die Zukunft: Die Tourismusbranche lebt vom Vertrauen der Gäste. Auch deswegen hat ihr die Coronakrise so schwer zugesetzt.
Wenn José Maria Trenor die letzten Wochen Revue passieren lässt, stöhnt er kurz auf: Da war zunächst die Absage der weltgrößten Mobilfunkmesse. Auf den Verlust des Millionengeschäfts reagierte Barcelonas Hotelgewerbe damals mit einer Mischung aus Entsetzen und Erleichterung. Dann kam die Vorsaison – und mit ihr die Hoffnung, im Vergleich zu Italien glimpflich davon gekommen zu sein. Und schließlich der Crash. Seit Ende März liegt der Tourismus im gesamten Land flach. Alle 14.800 Hotels, Pensionen und Herbergen sind geschlossen.
"Wir haben uns alle ständig geirrt – und jetzt müssen wir Prognosen für die Zukunft erstellen. Das ist schrecklich (lacht). Ich hoffe darauf, dass die nächste Mobilfunkmesse eine Art Wiedergeburt wird – und dass dann im Frühjahr die Menschen ihre Ängste verlieren, die Buchungen wieder steigen. Bis Februar 2021 durchhalten, bis Februar überleben: Das ist unser Ziel."

Mit Tourismus bricht Existenzgrundlage weg

Mit stetig wachsenden Besucherzahlen war der Tourismus Spaniens Stabilitätsgarant: Das Urlaubsgeschäft ist verantwortlich für zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung, 2,6 Millionen Menschen leben von ihm. Allein in Barcelona, einem der beliebtesten Städteziele weltweit, sind es 150.000 Menschen. Vielen bricht jetzt die Existenzgrundlage weg. Zum Beispiel Zaida Peris. Die staatlich geprüfte Fremdenführerin lebt in der Nähe des Park Güells.
Eine Frau mit Atemmaske steht alleine auf dem Markt "La Boqueria" in Barcelona.
Eine Frau mit Atemmaske steht alleine auf dem Markt "La Boqueria" in Barcelona.© picture alliance/ZUMA Press/Matthias Oesterle
Der von Antoni Gaudí angelegte Park zählt zu Barcelonas Hauptsehenswürdigkeiten. Normalerweise schieben sich Reisegruppen durch die Anlage mit den weltberühmten gewundenen Keramikbänken, Besucher aus aller Welt knipsen Selfies von sich und den mosaik-besetzten steinernen Echsen.
Jetzt ist es still vor Zaidas Haustür. Dabei sollte jetzt die Hauptsaison beginnen: die Monate, in denen sie als Selbstständige den Großteil ihres Umsatzes erwirtschaftet.
"Weil Ostern dieses Jahr so früh im Jahr liegt, war ich den ganzen März über ausgebucht – und jetzt ist alles gecancelt. Das ist ein dramatischer Abfall: Meine letzte und einzige Tour habe ich am 7. März gemacht. Das Schlimme ist, dass auch der ganze Rest der Welt unter Quarantäne steht oder gerade damit anfängt. Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder etwas Geld verdienen werde."
Zaida – Anfang 40, lange dunkle Haare – lächelt freundlich in die Kamera: Man soll ihr die Sorgen über die Zukunft, den Ärger über die Politik nicht gleich ansehen. Die spanische Regierung hat zwar 200 Milliarden Euro Hilfe angekündigt, doch für ihren Berufsstand seien die ein Witz.
"Hotels und Restaurants haben Anspruch auf Direkthilfen. Aber wir Reiseführer nicht: Als ob wir trotz der Ausgangssperre, trotz der geschlossenen Museen arbeiten könnten! Wir müssen mit aufwändigem Papierkram beweisen, dass wir Einbußen von mindestens 70 Prozent haben – bei mir sind es 100 Prozent – und bekommen dann etwa 600 Euro, aber lediglich für die Dauer des Alarmzustands: Das ist so gut wie nichts."
Ihre 38-Quadratmeter-Wohnung hat Zaida seit über drei Wochen nur zum Einkaufen verlassen. Um nicht zu sehr ins Grübeln zu geraten, paukt sie nachmittags online mit Kolleginnen neutestamentarische Symbolik – als Vorbereitung für die nächste Führung durch die Sagrada Familia, wenn, irgendwann, die Touristen wiederkommen.

Vor Monaten noch Proteste gegen Partytouristen und AirBnB

Noch vor ein paar Monaten hätte niemand für möglich gehalten, dass Barcelona einmal nach Besuchern lechzt. Im Gegenteil: Lautstark beschwerten sich die Bewohner über Partytouristen und steigende Mieten. Und in der Altstadt kontrollierten täglich Inspekteure, ob irgendjemand seine Wohnung ohne offizielle Genehmigung an Touristen vermietete.
Im Visier hatte die Stadtverwaltung damals vor allem AirBnB. Noch im Februar drohte sie dem Branchenriesen mit hohen Strafen, wenn der innerhalb von anderthalb Monaten nicht endlich allen schwarzen Schafen, also allen Gastgebern ohne Lizenz, den Zugang zur Online-Plattform verbiete.

Inzwischen liegen die Inspektionen auf Eis. Und Barcelonas Hosts, die sich bisher auf ihr krisensicheres Geschäft verlassen konnten, bangen um ihre Pfründe.
Olga Arroyas vermietet seit zehn Jahren – mit Lizenz – eine kleine Wohnung in Strandnähe. Normalerweise ist das Zwei-Zimmer-Apartment das ganze Jahr belegt, doch jetzt sind alle Buchungen bis weit in den Sommer gecancelt.
"Für mich ist das die wichtigste Einkommensquelle. Ich habe mit dem Vermieten angefangen, um meine Arbeitszeit reduzieren zu können und so mehr Zeit für meine Kinder zu haben. Aber jetzt steht die Wohnung seit März leer und wir haben laufende Kosten: Wasser, Strom, ein Umbau, der ansteht."
Die Plattform hat zwar Hilfen in Aussicht gestellt, dennoch überlegt Olga Arroyas, ihr Apartment künftig nicht mehr an Touristen, sondern regulär zu vermieten. Das sei zwar weniger rentabel, aber sicherer als das Geschäft mit den Urlaubern. Sie ist nicht die einzige: Seit Beginn der Coronakrise tauchen immer mehr Ferienapartments auf traditionellen Mietportalen auf. Manche spekulieren bereits über ein Ende des Geschäftsmodells von AirBnB.

Langfristiger Wandel durch Corona?

Kommt es tatsächlich so weit? Wie wird die Coronakrise den Tourismus verändern, wie das Leben und Arbeiten? Wird sich auch eine kosmopolitische Metropole wie Barcelona mehr auf ihr Potenzial vor Ort besinnen?
Bisher erkennt man den Wandel nur im mikroskopisch Kleinen: In Großunternehmen wie SEAT erwägt man, Dienstreisen durch Onlinemeetings zu ersetzen. Hotelbesitzer José Maria Trenor will die kommende Durststrecke mit Sonderangeboten für Stadtbewohner und Kurzzeitmieten überbrücken. Und in der Verwaltung wird überlegt, wie man Menschenaufläufe vor Top-Ten-Sehenswürdigkeiten vermeiden lässt.
"Es wird eine Weile dauern, bis wir wieder den Viren unseres Gegenübers vertrauen", glaubt Zaida Peris, die zum Nichtstun verdammte Fremdenführerin, und fügt dann hinzu:
"Ich hoffe, dass das alles uns hilft, zu verstehen, dass wir letztlich alle Menschen sind, Menschen aus Fleisch und Blut, mit Herz und Verstand. Ich habe die winzige Hoffnung, dass wir – auch wenn wirtschaftlich alles Kopf steht – diese grundlegende Lektion lernen."
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