Eine Shoppingmall im Zentrum von Doha, in der Hauptstadt von Katar. In der ersten Etage betreibt Fatma ein Studio für Kampfsportarten. Die Spiegel an der Wand sind frisch geputzt, die Matten auf dem Boden riechen noch neu.
Fatma wischt sich den Schweiß von der Stirn. Gerade hat sie in einem Kurs drei Freundinnen zu Höchstleistungen getrieben.
„Ich betreibe Sport nicht nur, um mich besser zu fühlen. Ich habe gelernt, wie ich in Wettbewerben dem Druck standhalten kann“, erzählt sie. „Diese Lehren helfen mir auch in der Universität, meine Noten sind besser geworden. Der Sport hat meinen Charakter geformt, er gibt mir Sicherheit in allen Lebensbereichen.“
Fatma ist Anfang 20. Sie sitzt kerzengerade auf dem Stuhl, mit ihren Händen beschreibt sie ihre Kampftechniken. Doch ihre Leidenschaft kann schnell umschlagen, in Frust, manchmal in Resignation.
Frauensport ist oft unsichtbar
Fatma ist die Leiterin des Sportstudios, inoffiziell. Ein Foto von ihr darf nicht auftauchen. Nicht im Eingangsbereich, nicht im Internet. Ihr Vater und ihre Brüder wollen das so.
Ich muss immer im Hintergrund bleiben, das schmälert meinen Stolz. So geht das schon lange: Ich wurde als Spielerin mehrfach für das Fußball-Nationalteam angefragt. Aber dort gibt es Kameras. Mein Vater will nicht, dass ich beim Sport gefilmt werde. Er glaubt, dass ich damit zur Schau gestellt werden würde und dass ich auf die schiefe Bahn gerate. Er verlangt Disziplin. Und er findet es nicht gut, wie sich unsere junge Generation entwickelt.
Fatma
Fatma ist in Doha aufgewachsen, ihren richtigen und vollständigen Namen möchte sie nicht nennen.
In Fatmas Heimat, in Katar, prägt der Wahhabismus die Gesellschaft der Einheimischen. Eine traditionalistische Auslegung des sunnitischen Islam. Fatma bekommt das schon in ihrer Kindheit zu spüren.
Brüder überwachen ihr Leben
„Meine Brüder haben die Kontrolle über mein Leben übernommen. Ich fühlte mich in jeder Hinsicht unterdrückt. Erst spät durfte ich ein Handy nutzen, und dann auch nur zum Telefonieren. Die Apps waren gesperrt. Einer meiner Brüder ist besonders streng“, erzählt sie.
„Er achtet auf die Kleidung, die ich trage, und mit wem ich spreche. Lange durfte ich zu Hause nur Cartoons schauen. Ich habe das Gefühl, dass meine Kindheit gerade erst zu Ende gegangen ist.“
Diese Einschränkungen haben für Fatma gravierende Folgen. Sie entwickelt Essstörungen, leidet unter Depressionen. Doch dann beginnt sie ihr Studium. An einer amerikanischen Universität, die in Doha eine Außenstelle unterhält.
Der Uni-Campus im Westen von Doha ist für Fatma ein Rückzugsort. In der Mensa kommt sie mit Studierenden aus allen Kontinenten ins Gespräch. Viele katarische Frauen verzichten hier auf das Tragen der Abaya, der traditionellen schwarzen Bekleidung, die auch das Haar bedeckt.
Frauensport ohne Zuschauer
Fatma nutzt das Sportangebot der Uni. Sie gehört zu den größten Talenten im Basketball und Fußball. Doch eine Karriere als Profisportlerin bleibt ihr versperrt.
Bei den Spielen in unserer Fußballliga dürfen keine Männer zuschauen. Es geht wie auf einem Flughafen zu. Kameras und Handys sind nicht erlaubt. Meist verhindern die Eltern schon sehr früh, dass ihre Töchter regelmäßig trainieren. Sport gehört ja eigentlich zum Unterhaltungssektor. Aber wenn man nicht filmen darf und keine Zuschauer zulässt, dann können wir als Frauen nicht weit kommen.
Fatma
Die Unsichtbarkeit des Frauensports ist in Katar ein Sinnbild für die Stellung der Frau insgesamt. Für alle möglichen Aktivitäten müssen Frauen die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen. Zum Beispiel, wenn sie heiraten oder in einem öffentlichen Job arbeiten wollen.
Hier stehen keine Frauen auf dem Spielfeld: Fans vom Team Katar im Al Bayt Stadion beim FIFA Arab Cup 2021.© picture alliance / Laci Perenyi
Sportliche Betätigungen für Frauen haben in den Golfstaaten nicht den gleichen Stellenwert wie in westlichen Gesellschaften. Jahrzehnte lang gab es kaum Räume, in denen sich katarische Frauen ohne traditionelle Bekleidung verausgaben konnten. Laut der „International Association of the Study of Obesity“ leiden 45 Prozent der katarischen Frauen an Übergewicht.
Übergewicht als hausgemachtes Problem
Der katarische Staat möchte sein Gesundheitssystem entlasten und die Bevölkerung zu mehr Bewegung animieren, zum Beispiel mit einem jährlichen nationalen Sporttag.
Doch die Skepsis hält sich in konservativen Kreisen hartnäckig, sagt Anna Reuß, die an der Universität der Bundeswehr in München zur Außenpolitik der Golfstaaten forscht.
Insofern gibt es natürlich die Befürchtung, dass diese Identitätsmuster erodieren können, wenn die Rolle der Frau zu progressiv neu definiert wird. Interessanterweise zeigen Studien auch immer wieder, dass man als Sportlerin als starke Frau im negativen Sinne gilt. Diese Studien haben gezeigt, dass aus Angst davor, als maskulin oder gar als lesbisch gar wahrgenommen zu werden, zögern junge Frauen, Fußball zu spielen.
Anna Reuß
Das katarische Regime pflegt eine andere Erzählung. Um wirtschaftliche Netzwerke mit Europa nicht zu gefährden, verweist das Regime auf weibliche Führungskräfte in Verwaltung und Kultur. Und auch auf „inspirierende Sportlerinnen“.
Die Sportlerin als Imageträgerin
Ein Beispiel: die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Doha 2019. Vor einem globalen Publikum konnte sich Katar als freundlicher und weltoffener Gastgeber präsentieren. Damals mit dabei: die katarische Hürdenläuferin Mariam Farid.
„Nach meinem Rennen kamen 20 Journalisten auf mich zu, die meisten kamen aus dem Westen. Ich habe mich gewundert, dass sie nicht mit den anderen Läuferinnen sprechen wollten“, erzählt sie.
„Einige von denen gehörten immerhin zur Weltspitze, sie hatten schon Rekorde aufgestellt. Auch ich habe bei dieser WM meine Bestleitung getoppt. Trotzdem interessierten sich die Reporter nur für meine Kleidung. ,Von Kopf bis Fuß verschleiert‘, das war ihre Schlagzeile.“
Auch der Westen beharrt auf Stereotypen
Mariam Farid ist eine redegewandte Frau von Mitte 20. Das Interview für dieses Feature gibt sie in einem angesehenen Krankenhaus von Doha. Nach ihrem Kommunikationsstudium arbeitet sie hier in der Presseabteilung. Ihre Leidenschaft gehört dem Sport.
Mariam Farid spielte Fußball in einem lokalen Klub. Sie ging Schwimmen, entschied sich schließlich für Leichtathletik. Sie spricht vier Sprachen, und so wurde sie zu einer offiziellen Botschafterin für die Leichtathletik-WM 2019 ernannt.
Viele Leute im Westen halten uns vor, dass der Nahe Osten verschlossen ist und dass wir uns öffnen sollen. Doch dieselben Leute wollen Signale des Fortschritts nicht anerkennen, und sie werden uns auch weiterhin einen Stempel aufdrücken. Das ist eine Dauerschleife. Aber ich werde mich weiter dafür einsetzen, Stereotype zu brechen. Ich habe die Macht, solche Missverständnisse auszuräumen.
Mariam Farid
Vor Wettbewerben trainiert Mariam Farid drei bis vier Stunden am Tag. Auf Instagram lässt sie fast 70.000 Follower an ihrem Alltag teilhaben. Mariam Farid hat als Botschafterin der Leichtathletik-WM Kontakte geknüpft, in Medien und Politik. Sie weiß, welche Fragen von Journalisten aus Europa kommen könnten, daher gibt sie die Antwort schon vorher.
Wettkämpfe mit Hidschab
„Ich spreche es laut aus: Ich bin stolz darauf, dass ich meine Wettbewerbe mit dem Hidschab bestreite. Früher habe ich im Sport darauf verzichtet, aber ich habe mich nicht so wohl gefühlt“, sagt sie.
„Durch den Hidschab fallen mir die Haare nicht ständig ins Gesicht. Und außerdem ist meine Schönheit dadurch nicht für jeden sichtbar. Ich bin da eben anders und ich liebe das.“
Viele Menschen verbinden mit Katar Wüste, Kamelen, Reichtum durch Öl – und Frauen, die es, wenn überhaupt, gegen alle Widrigkeiten an die Spitze schaffen.
Mariam Farid unterstreicht eine Botschaft immer wieder: Die Wirklichkeit sei vielfältig, komplex und es sei wichtig, historische Ursachen zu benennen.
Seit den 1990er-Jahren versucht sich das einst verschlafene Katar aus der wirtschaftlichen und militärischen Abhängigkeit des Nachbarn Saudi-Arabien zu lösen. Das Emirat öffnete sich für Investoren und bemühte sich um die Austragung großer Sportereignisse. 1998 veranstaltet der katarische Leichtathletikverband erstmals auch einen größeren Wettkampf für Frauen.
Frauensport als Ticket zur WM
Damals gab es im Freizeit- und Gesundheitssport noch keine Angebote für Mädchen und Frauen, erinnert die katarische Sportfunktionärin Amna Al Qassimi, die Ende der 90er-Jahre in Doha noch zur Schule geht.
Damals haben wir es nicht für möglich gehalten, dass Frauen irgendwann an großen Wettkämpfen teilnehmen dürfen. In unserer Kultur war es üblich, dass Mädchen entweder zu Hause oder in der Schule Sport treiben. Das wars.
Amna Al Qassimi
Anfang des Jahrtausends bringt Musa bint Nasser al-Missned, die zweite Ehefrau des damaligen Emirs, die Gründung des Frauen-Sportkomitees auf den Weg. Diese Organisation soll sich nach eigenen Angaben „für die Gleichstellung der Geschlechter im Sport“ einsetzen.
Das große Ziel Katars ist schon damals die Ausrichtung der Fußball-WM der Männer. Doch für einen Zuschlag des Weltverbandes FIFA müssen Bewerber auch die Förderung von Mädchen und Frauen nachweisen.
Brachte die Gründung des Frauen-Sportkomitees auf den Weg: Scheicha Musa bint Nasser al-Missned.© picture alliance / AP Images
So wird 2009 in Katar eine Fußballauswahl der Frauen gegründet. Im Oktober 2010 bestreitet sie ihr erstes Länderspiel gegen Bahrain. Anderthalb Monate später wird die Männer-WM 2022 nach Katar vergeben.
Der holprige Weg zum Aufbau einer Frauenliga
Amna Al Qassimi, die Geschäftsführerin des Frauen-Sportkomitees, erinnert sich.
Am Anfang war das ein Schock für uns. Wir haben spät im Frauenfußball begonnen, also hatten die anderen Nationalteams einen großen sportlichen Vorsprung. Wir haben in Katar eine Frauenliga aufgebaut und mit dem Nationalteam einige Länderspiele bestritten, zum Beispiel gegen Afghanistan, die Malediven und Palästina.
Amna Al Qassimi
Lange Zeit ist das Nationalteam allerdings kaum aktiv und wird auch nicht in der Weltrangliste der FIFA geführt. Die Frauenliga ist in Katar nicht dem Fußballverband unterstellt, sondern dem Frauen-Sportkomitee. Eine ungewöhnliche Konstellation. Amna Al Qassimi möchte aber die Entscheidungsträger im Fußball nicht kritisieren. Stattdessen betont sie wachsende Netzwerke.
„Unsere Fußballerinnen haben noch keine großen Erfahrungen auf internationaler Ebene gemacht. Für uns ist es wichtig, dass das Frauenteam des FC Bayern München für Trainingslager regelmäßig nach Doha kommt“, sagt sie. „Wir organisieren dann gemeinsame Übungseinheiten. So können sich unsere Spielerinnen weiter entwickeln.“
Der Besuch der Münchner Fußballerinnen wird stets intensiv in katarischen Medien dokumentiert. Und auch sonst lässt die Regierung Sportlerinnen in ihre politische Kommunikation einfließen.
Sport als Soft Politics
Im November 2021 bestreitet das katarische Fußball-Nationalteam in Doha ein Freundschaftsspiel gegen eine Auswahl aus Afghanistan.
In einer Pressemitteilung betonen katarische Entscheidungsträger ihre Rolle bei der „sicheren Evakuierung von mehr als 70.000 Menschen aus Afghanistan“, nach der dortigen Machtübernahme durch die Taliban.
Hassan Al Thawadi, Organisationschef der Männer-Weltmeisterschaft 2022, wird wie folgt zitiert: „Wir freuen uns sehr über diese Gelegenheit und hoffen, dass wir diese inspirierenden jungen Frauen weiterhin unterstützen können.“
Die Frage bleibt allerdings: Wie glaubwürdig ist das Engagement für sportliche Gleichstellung im Emirat tatsächlich? Katar hat keine Tradition von ehrenamtlichen Vereinen im Breitensport. Die Aspire-Academy in Doha, eines der größten Sportzentren der Welt, konzentriert sich auf die Förderung von männlichen Talenten. Das Frauen-Sportkomitee ist deutlich schlechter ausgestattet.
Bildungseinrichtungen sind auch Sportstätten
Umso wichtiger ist das breite Sportangebot der Education City. Auf diesem Campus sind Außenstellen westlicher Universitäten angesiedelt, die von Katar gefördert werden.
Zu den dienstältesten Wissenschaftlerinnen dort zählt Susan Dun, sie lebt seit 2008 in Katar.
In der katarischen Community gilt es als nicht akzeptabel, dass Frauen für ein Studium ins Ausland gehen. Das ginge nur, wenn sie von einem männlichen Familienmitglied begleitet werden. Für ein mehrjähriges Studium ist das unrealistisch. Also hat die Regierung das Bildungssystem im eigenen Land massiv ausgebaut. So ist die Education City entstanden.
Susan Dun
In der Education City können Frauen ungestört Sport treiben. Mehr als 70 Prozent der Studierenden auf dem Campus sind weiblich. Aber die Situation hier ist und bleibt eine Ausnahme.
Außerhalb des Campus sieht die Lage so aus: 70 Prozent der katarischen Männer sind erwerbstätig – gegenüber 37 Prozent der Frauen. Nach dem Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums liegt Katar von 153 bewerteten Staaten in der Frauenbildung auf Platz 83. In der weiblichen Gesundheit belegt Katar Platz 142. Im politischen Engagement: 143.
Studien aus anderen Ländern des Nahen Ostens zeigen: Regelmäßiger Sport kann bei Frauen zu mehr Selbstbewusstsein und zu einer stärkeren gesellschaftlichen Teilhabe führen.
In der Golfregion ein Fortschrittsmodell
Susan Dun glaubt, dass in Katar ein Wandel angestoßen wurde. „Als ich zum ersten Mal nach Katar kam, gab es kaum Aktivitäten für Frauen“, erzählt sie.
„Die am meisten verbreitete Betätigung für sie war das Gehen. Aber es ist sehr heiß hier. Inzwischen haben viele Fitnessstudios für Frauen geöffnet. Es gibt Yoga und Spinning. Es werden Radwege gebaut. Auch für Sportkleidung und Geräte sind Angebote gewachsen.“
Es ist eine Frage der Perspektive: Nach Maßstäben Europas gilt Katar als rückständig. Nach Maßstäben der Golfregion gilt Katar durchaus als Fortschrittsmodell. In Saudi-Arabien oder im Iran wird die Teilhabe von Frauen stärker eingeschränkt. Auch im Sport.
Doch auch wenn inzwischen in Katar immer mehr Frauen Fußball spielen oder ins Fitnessstudio gehen, eine kritische Zivilgesellschaft duldet das Herrscherhaus deswegen noch lange nicht. Frauenrechtsorganisationen in Doha? Sind noch pure Utopie.