Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918
Rowohlt Verlag, Berlin 2013
928 Seiten, 29,95 Euro
Kollektiver Wahn nach Erlösung
Europa taumelte gemeinsam mit "patriotisch aufwallender" Begeisterung in den Ersten Weltkrieg, der die alte Welt hinwegfegte und 17 Millionen Tote hinterließ - so die Sichtweise des Historikers Herfried Münkler.
"Die Welt von 1914-1918" - Lässt sich ein umfassenderer Untertitel für eine Geschichte des Ersten Weltkriegs denken? Herfried Münklers Buch ist auf den ersten Blick das deutsche Gegenstück zu Christopher Clarks inzwischen berühmt gewordenen "Sleepwalkers".
Mit schlafwandlerischer Sicherheit hätten die europäischen Mächte die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts ausgelöst. Es sei nicht die Schuld einer einzigen Macht, also nicht die des Deutschen Reiches allein gewesen. Sondern die Schuld aller. Münkler kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch bei ihm wird die Frage der Einzelschuld in eine der Gesamtverantwortung verwandelt.
Auf den zweiten Blick will er mehr als nur ein deutscher Clark sein. Seine monumentale Studie ist nicht auf einen vergleichbar griffigen Titel wie den der "Schlafwandler" zu bringen. Sie folgt nicht einem leitenden Gedanken, sie folgt etlichen.
Von Verdun über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, der die Ressourcenzufuhr für das Reich sichern sollte, bis zu den ersten Luftkämpfen: Es wird alles wie ein Schlachtengemälde vor uns ausgebreitet, und der Geist der ganzen Epoche gleich mitgeliefert. Nehmen wir als Beispiel jene singenden Patrioten in Berlin, bevor es losging:
"Die Hunderttausende, die sich Anfang August 1914 vor dem Berliner Schloss versammelten und unter patriotischem Gesang der Erklärung des Krieges entgegenfieberten, schließlich der aufbrausende Jubel nach den Worten des Kaisers, er kenne im jetzt beginnenden Krieg 'keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche' – das sind die Hauptmotive des später viel beschworenen 'August-Erlebnisses'."
Herfried Münkler macht diese Motive zum Teil am Werk des französischen Religionsökonomen Georges Bataille fest. Ihm verdanken wir kluge Einsichten in das verschwenderische Befolgen archaischer Opferriten. In den jubelnden deutschen Patrioten wären ähnliche Impulse zum Ausbruch gekommen und hätten schließlich zum Opfergang einer ganzen Generation geführt.
Sie erlag dem kollektiven Wahn einer Erlösung vom prosaischen Alltagsleben durch das gemeinschaftliche Verschwenden der eigenen Existenz an den Fronten des Krieges - ohne zu wissen, welche Tragödie sie erwartete.
Alle taumelten in den Krieg
Der Gedanke an die eigene Läuterung im Kampf schwang mit, auch der Wunsch, die Bismarck'sche Einigung der Deutschen, welche nur als äußerlich empfunden wurde, endlich durch die innere Einigung zu ergänzen und so die Einkreisungsängste zu bannen.
Was hier so klingt, als sei der Erste Weltkrieg als dritter deutscher Einigungskrieg eben doch allein auf das Konto des Wilhelminischen Kaiserreichs gegangen, wird von Münkler umgehend korrigiert.
"Vielleicht war das August-Erlebnis nur eine propagandistische Fiktion, die eine nicht vorhandene Kriegsbegeisterung suggerieren sollte, um die Angst der Menschen vor dem, was kommen würde, zu überdecken."
Wenn es sich indes um mehr als eine Fiktion, wenn es sich um nicht zu leugnende Wirklichkeit handelte, dann betraf das die Deutschen nicht allein.
Es "ist festzuhalten, dass patriotisch aufgewallte Massen nicht nur in Berlin, München oder Wien, sondern ebenso in Paris, London und St. Petersburg zu beobachten waren.“
Man taumelte also allseits in den Krieg. Dass dann aber trotzdem die Deutschen präventiv losschlugen, war nicht einer imperialen Herrschsucht geschuldet, wie sie der Hamburger Historiker Fritz Fischer beschrieben hat und damit eine wissenschaftliche Kontroverse auslöste. Sondern sie war der Armee geschuldet, die den Schlieffenplan aus dem Jahr 1905 umsetzen wollte.
Nach Ansicht des Generalstabschefs Moltke d.J. sollte er das Reich vor der Einkreisung zu bewahren. Wenn die kaiserliche Armee Frankreich binnen weniger Wochen empfindlich schwächte, konnte sie sich einen Zweifrontenkrieg gegen West und Ost wenigstens eine Zeit lang erlauben. Einzige Bedingung: Es musste schnell gehen. Was aber wollte der viel geschmähte deutsche Kaiser?
"Wenn Wilhelm sich auch einer martialischen Sprache bediente, so war er in vieler Hinsicht doch ein eher am Frieden orientierter Herrscher. (…) Unmittelbar vor Ausbruch der Feindseligkeiten hat er noch einmal versucht, in den Lauf des Geschehens einzugreifen, als er in der Hoffnung, bei einem Verzicht auf den Angriff gegen Frankreich sei mit einer Neutralität Englands zu rechnen, am 30. Juli 1914 Moltke aufforderte, den Aufmarsch im Westen zu stoppen und die Truppen in den Osten umzudirigieren."
Doch Moltke antwortete, der minutiös geplante Aufmarsch eines Millionenheeres lasse sich nicht einfach ändern, es sei denn um den Preis vollständiger Auflösung aller Truppenteile. Dem Kaiser blieb nichts anderes übrig als klein beizugeben. Zum kollektiven Bevölkerungswahn, der in den Krieg hineintrieb, traten demnach technische Probleme der militärischen Organisation, die ihre eigene Sogwirkung entfalteten.
Ist Deutschland so isoliert wie vor 100 Jahren?
Bei Münkler kommt das Kaiserreich am Ende recht gut weg. Er scheut sich nicht, es für relativ liberal zu halten. Und er kritisiert mit leichter Hand die Zunft der deutschen Historiker, die sich im Schutz von Fischers Imperialismus-Vorwurf jahrzehntelang der Erforschung des positiven Zusammenhangs von Demokratie und Frieden gewidmet hätten, ohne genügend auf die Rolle des Zufalls in der Geschichte geachtet zu haben.
Der aber sei nicht nur für die Entstehung des Ersten Weltkriegs mitentscheidend gewesen. So ist alles wieder offen. Niemand wird freigesprochen, auch die Deutschen nicht.
Wie steht es heute mit ihnen, da sie als Verlierer beider Weltkriege erneut zum Hegemon in der EU geworden sind? Kehrt die Geschichte zurück? Ist Deutschland, wie Arnulf Baring unkt, so isoliert wie vor hundert Jahren?
Herfried Münkler befasst sich mit der deutschen Frage nicht weiter. Er sieht das Land durch die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs politisch nicht herausgefordert. Schon weil sein Einfluss nicht mehr auf militärischer, sondern auf wirtschaftlicher Macht beruht.
Dafür rückt das 'Reich der Mitte' ins Zentrum seiner Betrachtungen. China befinde sich in der Position des wilhelminischen Reiches: es ist mächtig, fühlt sich jedoch nicht angemessen respektiert, sieht sich von anderen Mächten eingekreist und befürchtet die Unterbrechung der Seewege, die den Zufluss seiner Ressourcen sichern.
"Die Geschichte wiederholt sich nicht (…). Aber die Konstellationen, die einer Ereignisabfolge zugrunde liegen, sind einander oft ähnlich, und nur deswegen hat die Formel Sinn, man könne und müsse aus der Geschichte lernen."
Eine distanzierte, aber zugleich aktuelle Schlussfolgerung des Berliner Politologen, die für die Güte seines großen, dazu in souveräner Manier verfassten Geschichtswerks spricht.