Wir informieren uns zu Tode
Der Umgang mit der Germanwings-Katastrophe zeigt, wie die digitale Mediengesellschaft in einen Irrweg treibt, meint Peter Lange. Der Chefredakteur von Deutschlandradio Kultur beklagt Plattitüden, Pseudonachrichten und hanebüchene Spekulationen.
Der Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen wird – daran besteht kein Zweifel – eines der großen dramatischen Ereignisse sein in den Jahresrückblicken 2015. Eine furchtbare Katastrophe, die keinen Zeitgenossen mit nur etwas Empathie unberührt lässt.
Aber wenn der Absturz tatsächlich vom Copiloten absichtlich herbeigeführt wurde, dann erweisen sich die ersten 48 Stunden nach dem Absturz als ein einziger medialer Irrflug. Die diversen Talkshows der beiden ersten Tage addierten sich mit ungezählten Sondersendungen, Live-Schalten, Expertengesprächen, Extra-Ausgaben von Nachrichtensendungen zu einem senderübergreifenden monothematischen Dauerschleife von vielen Stunden. Aber war das angemessen und notwendig?
Klar, hinterher ist man immer schlauer. Aber wenn man das, was nach streng handwerklichen Maßstäben als gesicherte Nachricht gilt, zusammenführt – also Informationen, die von zwei unabhängigen Quellen gesichert sind, - dann reichte dafür eine DIN-A4-Seite aus. Dazu kam ein Anteil Verdachtsberichterstattung: "Es sieht so aus, als ob ... " - Die ist unter bestimmten Voraussetzungen notwendig und zulässig.
Katastrophen-Tourismus
Aber der weitaus größte Teil bestand in den ersten zwei Tagen aus Plattitüden, Nichtigkeiten, inszenierten Pseudonachrichten und teilweise hanebüchenen Spekulationen, zumeist versehen mit der Vorbemerkung, man wolle ja nicht spekulieren. Das ist gar nicht mal als Kollegenschelte gemeint. Die Reporter können einem häufig nur leidtun. Man ist froh, dass man nicht in ihrer Haut steckt und ständig Fragen beantworten muss, auf die es noch keine Antworten gibt oder für die man sich wegen des unverhohlenen Voyeurismus fremdschämen möchte. Die Menge der gesicherten Informationen verhielt sich umgekehrt proportional zur eingeplanten Sendezeit.
Aber warum passiert das? Und warum passiert es immer wieder? Seit dem Geiseldrama von Gladbeck kennen wir dieses Ritual hinterher: Es wird Selbstkritik geübt und Besserung gelobt. Und trotzdem setzt sich bei vielen der Eindruck fest, es wird jedes Mal schlimmer. Nach Erfurt, Winnenden oder der Loveparade-Katastrophe in Duisburg.
Warum sieht sich ein um die Fassung ringender Schuldirektor genötigt, auf einer Pressekonferenz zu sprechen, wo es für das, was seiner Schule widerfahren ist, eigentlich keine Worte geben kann?
Wir sehen stundenlange Live-Übertragungen einer offenbar einvernehmlichen und allseits als notwendig erachteten Inszenierung, bei der drei Politiker vor einer Batterie von Kameras den angetretenen Hilfskräften die Hände schütteln. Wieso ist es plötzlich richtig und wichtig, dass drei Staats- und Regierungschefs an den Unglücksort reisen? Noch vor wenigen Jahren wäre das als Katastrophen-Tourismus mit Blick auf Wählerstimmen gegeißelt worden. "Haltet die Leute dort nicht von der Arbeit ab! Ihr behindert mit dem Medientross in Eurem Schlepptau die Bergungsarbeiten eher, als dass Ihr eine Hilfe seid!" Wäre doch eine rationale und plausible Ansage gewesen. "Bedanken könnt Ihr Euch hinterher, wenn die Arbeit getan ist." Normal ist aber inzwischen das Gegenteil. Warum?
Im Breaking-News-Modus
Politik und Medien sind Treiber und Getriebene einer Entwicklung, die mit einem tatsächlichen oder unterstellten allumfassenden Informationsanspruch der Gesellschaft an die Grenze des Totalitären führt. Die Politiker und ihre Berater wissen, dass sie Bilder produzieren müssen, um die Erwartung der Medien zu erfüllen. Diese wiederum reagieren auf die Zwänge, denen sie sich ausgesetzt sehen von einer Gesellschaft, die sich angeblich im permanenten Breaking-News-Modus befindet. Aber ist das so? Die Hörer-Reaktionen, die wir bekommen, erlauben daran schon einen gewissen Zweifel.
Wenn es aber so ist, und die Einschaltquoten sprechen da eben auch eine andere Sprache, dann ist es ein Kreislauf, aus dem die Akteure von Politik und Medien nicht mehr allein herausfinden werden. Wir brauchen eine grundsätzliche Debatte über Qualität, Standards und Grenzen in der fast schon totalen Informationsgesellschaft. Andernfalls ist die nächste Runde bei der nächsten Katastrophe programmiert.