Kate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir. Ein modernes Leben
Aus dem Englischen von Erica Fischer und Christine Richter-Nilsson
Piper-Verlag, München 2020
528 Seiten, 25 Euro
Eine kluge, unaufgeregte Biografie
06:50 Minuten
Eine neue Biografie von Simone de Beauvoir zeichnet ein komplexes und detailreiches Bild der französischen Existenzialistin – jenseits von Klischees und vorschnellen Urteilen.
Die 1908 geborene Simone de Beauvoir ist nicht nur eine der bekanntesten und einflussreichsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, sondern auch bis heute eine der umstrittensten. Zu Lebzeiten schockierte sie ihre gutbürgerliche Umwelt durch ihre freie Verbindung mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre – und dann noch mehr durch ihre monumentale frühfeministische Studie "Das andere Geschlecht".
Die Nachwelt streitet sich seit ihrem Tod 1986 über ihre Bedeutung für die existenzialistische Philosophie und für den Feminismus. Bis heute gibt es die klassische misogyne Lesart, die sie als wenig originelle "Schülerin" Sartres sieht, die dessen Existenzialismus lediglich in literarischen Werken popularisiert und sich im Übrigen seinem Wunsch nach einer offenen Beziehung gefügt habe.
Dagegen betonen feministische Interpretinnen seit langem ihren Einfluss auf Sartre, ihre Unabhängigkeit und ihre genuine philosophische Leistung, das Geschlecht zu einer zentralen philosophischen Kategorie gemacht zu haben. Sie stoßen damit aber zum Teil auf Widerstände in Beauvoirs Werken und Memoiren, wo sie selbst gelegentlich Sartre als den wichtigeren Philosophen charakterisiert und ihren eigenen Beitrag herunterspielt – ganz zu schweigen von ihren frühen Distanzierungen gegenüber dem Feminismus.
Mehr als einen lieben
Die britische Philosophin Kate Kirkpatrick, Dozentin am King's College in London, hat nun eine dicke Biografie Beauvoirs vorgelegt, die sich vornimmt, die französische Philosophin jenseits dieser klassischen Streitlinien neu und mit frischem Blick zu sehen. Dazu greift die Autorin auch auf erst in allerjüngster Zeit veröffentlichte Briefe und Tagebücher zurück. Sie erlauben es ihr, das Bild, das Beauvoir selbst in ihren späten, seit 1958 veröffentlichten Memoiren und Interviews von sich und ihrem Umfeld zeichnet, an manchen Stellen zu korrigieren und zu ergänzen.
Insbesondere für die junge Beauvoir ist das äußerst interessant. Die philosophische Frage der Freiheit taucht schon sehr früh mit großer Intensität auf, lange vor der Begegnung mit Sartre 1929. Ebenso die Idee, dass es möglich sein müsse, mehr als eine Person zu lieben.
Der berühmte "Pakt" der beiden etwa, mit dem sie sich neben ihrer "notwendigen" Beziehung noch andere, "kontingente" Lieben erlaubten, entstand zu einer Zeit, in der Beauvoir, neben ihrer extrem intensiven intellektuellen Beziehung zu Sartre noch immer in ihren Cousin Jacques verliebt war, den sie zu heiraten hoffte, und in der sie auch noch eine leidenschaftliche Beziehung zum gemeinsamen Freund René Maheu verband.
Emotionale Verflechtungen
Kirkpatrick beschreibt die emotionalen Probleme, die sich aus dem vielfältigen Beziehungsgeflecht ergaben– inklusive Beziehungen Beauvoirs zu jüngeren Frauen, die teilweise auch mit Sartre intim wurden – kleinteilig und ohne zu skandalisieren. Die polyamourösen Verwicklungen führten zu erwartbaren Komplikationen, auch zu Verwerfungen, und waren für niemanden leicht zu leben.
Beauvoir, die durchaus auch moralische Selbstkritik übte, wird bei Kirkpatrick aber weder als Opfer noch als Täterin dargestellt, sondern als eine Denkerin, deren ganzes intellektuelles und emotionales Interesse sich darauf richtete, ihre Philosophie der Freiheit mit ihrem Leben in Einklang zu bringen – permanentes Scheitern mit inbegriffen.
Kirkpatrick gelingt es auf fast 500 Seiten die Person Beauvoir in ihrer ganzen – zeittypischen, sozialen, geschlechtlichen – Widersprüchlichkeit mit deren philosophischen und literarischen Interessen zu verbinden. Es ist ein großes Verdienst dieses Buches, dass es sich des Urteils weitgehend enthält, und den Mut hat, die ikonische Intellektuelle Beauvoir weder zu idealisieren noch zu verurteilen. Mehr noch als die Fülle an Details ist es der absolut unaufgeregte und stets kluge Tonfall, der dieses Buch so lesenswert macht.