Kate Tempest: "Hold Your Own"
Gedichte. Englisch und deutsch
Aus dem Englischen von Johanna Wange
Edition Suhrkamp, 2016. 233 Seiten, 16,00 Euro
Eine würdige Enkelin der Beat-Poeten
In ihrem Gedichtband "Hold Your Own" versetzt die britische Spoken-Word-Poetin Kate Tempest antike Gestalten ins London von heute. Obwohl ihre Texte für den Vortrag geschrieben sind, funktionieren sie auch auf Papier.
Der Legende nach hatte er sieben Leben: der blinde Seher Teiresias. Kate Tempest macht die Figur des griechischen Mythos wieder lebendig, lässt sie in verschiedenen Rollen und Lebensaltern auftreten: als 15-jährigen Schüler, als junge Frau, als erwachsenen Mann und als verwirrt umherirrenden Greis.
"Brand New Ancients" hieß der erste Lyrikband der 1985 geborenen Autorin. 2013 erhielt sie dafür den renommierten Ted Hughes Award. Auch die Gedichte in "Hold Your Own" versetzen antike Sagengestalten in die Gegenwart.
Der Orakelpriester Teiresias, der mehrfach sein Geschlecht wechselt, wird für Kate Tempest zu einer Symbolfigur der Selbstsuche. "Während wir im Netz Identitäten sammeln / Und in unsere Smartphones glotzen" lebe Teiresias vor, "Was es heißt: sich zu behaupten" und sich beim Polieren diverser Profile nicht selbst zu verlieren. Tiresias – you teach us / What it means: to hold your own.
Reich an sinnlichen Bildern
Die Sprache der Gedichte ist hochmusikalisch und reich an sinnlichen Bildern. Zwei Schlangen beim Liebesspiel entfesseln einen Tanz von Reim und Rhythmus. Die Haltung hinter den Texten ist freilich nicht brandneu.
Mit dem selbstbewussten Künstlernamen "Tempest", der an William Shakespeares "Sturm" erinnert, stellt die Autorin sich in eine lange Tradition. Das kürzeste Gedicht des Bandes trägt den Titel "Seufzer" (Sigh), es lautet: "I saw the best minds of my generation destroyed by payment plans." – "Ich sah die besten Köpfe meiner Generation an Ratenzahlungen zugrunde gehen." Eine Replik auf das Gedicht "Howl" ("Das Geheul") von Allen Ginsberg, eine Hymne der Beat Generation.
Kate Tempest ist eine würdige Enkelin der Beat-Poeten. Ihre Texte sind für den Vortrag geschrieben. Auf der Bühne feiert sie Erfolge als Rap-Musikerin und Slam Poetin: Es gilt das gesprochene Wort.
Lesen oder hören? Englisch oder Deutsch?
Funktioniert ihre Kunst also überhaupt auf Papier? Ja, denn bei diesem Ebenen-Sprung geht zwar manches verloren, aber es gibt auch einen Mehrwert. Als Zuhörer kann man den blitzschnellen Wendungen der Texte oft kaum folgen. Wer sie vor Augen hat, lernt ihre handwerkliche Qualität erst wirklich zu schätzen.
Der Übertragung ins Deutsche widersetzen sich die Gedichte dagegen weit mehr. Immer wieder gelingen der Übersetzerin Johanna Wange Passagen, die eine eigene poetische Kraft entfalten. Aber an den Sog des Originals reichen sie kaum heran.
Auf Reime wurde weitgehend verzichtet. Worte, die auf Englisch lässig hingeworfen klingen, wirken auf Deutsch nicht selten etwas antiquiert – "nächtens", "schulwärts", "frohgemut", "geflissentlich". In der zweisprachigen Ausgabe sind solche Misstöne leicht zu verschmerzen. "Hold Your Own" enthält ja ohnehin nur die Partitur zu Tempests Teiresias-Zyklus.
Wer wissen will, wozu diese Autorin imstande ist, kann es jetzt schwarz auf weiß nach Hause tragen. Wer sich ihrer Kunst hingeben möchte, muss Kate Tempest hören.