Kater in Großbritannien

Wie die digitale Kultur den Brexit befeuerte

Unterstützer der "Remain"-Kampange gegen den Brexit mit langen Gesichtern
Die Briten stimmten mit 51,9 Prozent für den EU-Austritt: Für viele kam der Schock zu spät, der Brexit wird sich nicht mehr abwenden lassen. © Rob Stothard/PRESS ASSOCIATION, dpa picture alliance
Von Lars Reppesgaard · 14.07.2016
Desinformierend und polarisierend habe die Netzgemeinde den Austritt Großbritanniens aus der EU betrieben. Weshalb der Hamburger Blogger Lars Reppesgaard fordert, dass politische Debatten wieder gehaltvoller, sachlicher und ruhiger geführt werden müssten.
Soviel Reue war selten nach einer Abstimmung: Viele Briten, die für den Brexit stimmten, würden gerne ihre Entscheidung ungeschehen machen. Online-Petitionen für eine neue Volksbefragung werden millionenfach angeklickt. Die politischen Köpfe der Leave-Bewegung haben das Weite gesucht. Andere sollen das Chaos ausbaden, das sie angerichtet haben.
Es scheint, als erwachen viele Briten aus einem kollektiven Rausch. Und nun fragen sie sich, was sie und ihre Landsleute geritten habe, sich von Europa zu verabschieden. Eine Antwort finden wir auf dem Display ihres Smartphones. Der indische Wissenschaftler Dhruva Jaishankar nennt das unterlegene "Remain" treffend "das erste große Opfer einer digitalen Demokratie".
Echtzeit-Vernetzung und allverfügbare Information führen eben nicht dazu, dass Menschen bei politischen Entscheidungen besser informiert sind. Vielmehr sorgte digitales Dauerfeuer für beispiellose Polarisierung und totale Desinformation.

Nicht britischer EU-Austritt, sondern infernalische Debatte

Nicht Europa, nicht sein diskussionswürdiger Zustand fesselte, sondern die infernalische Art, wie ein britischer Austritt aus der EU per Smartphone-Klick verhandelt wurde, wie die Netzgemeinde lebt und diskutiert.
Sie blickt nicht zurück und nicht nach vorne. Anders als die Wissenschaft bezieht sie nicht die Summe bisheriger Erkenntnisse in ihre Diskurse ein. Anders als der Journalismus kennt sie keine Pflicht zur Recherche. Anders als die Philosophie nimmt sie sich nicht die Zeit nachzudenken und abzuwägen.
Was nicht sofort bewertbar ist, wird bis zur Verzerrung hin vereinfacht. Welche Folgen Entscheidungen haben, ist nicht Teil ihres Gesprächs. Es ist abgeschlossen, wenn die persönliche Erregung dem guten Gefühl gewichen ist, etwas gesagt zu haben.
Online-Medien spielen eifrig mit – zu groß ist die Angst, die nächste Aufmerksamkeitswelle zu verpassen. Durch die Sofort-Reaktion bleibt kaum Zeit, Fakten zu prüfen. Richtigstellungen gehen später unter. Dass Äußerungen und Argumente nicht mit den Tatsachen übereinstimmten, fiel so erst nach dem Referendum auf.

Netz feiert den neuen Politiker-Typ des Vereinfachers

Und der Rest von Europa schaute furchtbar erregt zu. Denn nicht nur in Großbritannien hat die Digitalisierung den politischen Diskurs fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Sie schuf einen neuen Typ Politiker, der sich perfekt an dieses Biotop anpasst. Es ist der gnadenlose Vereinfacher, dem im Netz dafür applaudiert wird.
Man fragt sich schon, will das surfende Publikum wirklich, dass Leute komplexe politische Entscheidungen treffen, die Expertenwissen für überflüssig halten und Bauchgefühl wichtiger als Fakten finden.
Beschlussvorlagen oder Handelsverträge, Gesetzesentwürfe oder Haushaltspläne lassen sich kaum auf smartphone-kompatiblen Häppchen-Content herunterbrechen und mit einem Klick auf den Like-Button oder einem Kommentar so abschließend behandeln, dass man sich danach gut fühlt.

Sachliche Debatte ist auch im Smartphone-Zeitalter unabdingbar

Der Brexit-Kater führt vor Augen, in der Politik geht es nicht um Unterhaltung. Ein Mindestmaß an Beschäftigung mit der Sache ist unabdingbar, um als Mensch und Bürger sein Gemeinwesen mitzugestalten. Auseinandersetzungen müssen wir anders führen: gehaltvoller, sachlicher und ruhiger – ob im Netz oder auf der Straße.
Jetzt, wo es sich zeigt, dass die lautesten Schreihälse die ersten sind, die vor der Verantwortung weglaufen, könnten die Briten sich für die weniger lauten Politiker entscheiden, damit sie aus dem Votum für einen Ausstieg aus der EU wenigstens für alle Seiten das Beste machen. Vielleicht war das erste große Opfer einer digitalen Demokratie wenigstens dafür gut.

Lars Reppesgaard, Jahrgang 1969, arbeitet beim Beratungsunternehmen "Faktenkontor" und ist Autor des 2008 erschienen Buches "Das Google-Imperium". Nach dem Studium arbeitete er vier Jahre lang als Reporter und Moderator beim Hörfunk von Radio Bremen. Seit dem Jahr 2000 lebt er in Hamburg und schreibt für Wirtschaftsmedien wie "Handelsblatt" oder "Wirtschaftswoche" und für seinen Blog "Googlereport".

© Asmus Henkel
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