Gerade müssen wir viel Zeit zu Hause verbringen. Dass das nicht langweilig ist, sondern auch ein großes Abenteuer sein kann, hat vor mehr als 200 Jahren, 1794, der französische Schriftsteller Xavier de Maistre bewiesen. Wegen eines Arrests, zu dem er nach einem Duell verurteilt worden ist, musste er 42 Tage zuhause verbringen – und hat sich deshalb zu einer "Reise um mein Zimmer" aufgemacht, auf der er das Vertraute als das Fremde, das Gewohnte als das Überraschende entdeckt hat. Wir haben Schriftsteller gebeten, für uns auch solche Expeditionen durch ihr Zimmer zu unternehmen. Den Auftakt machte Lutz Seiler, ihm folgte Zsuzsa Bánk. Heute bereist Katerina Poladjana ihre Wohnung. Zuletzt erschien von ihr im S. Fischer Verlag "Hier sind Löwen".
Ablativ, Bruchrechnen und stehengebliebene Gedanken
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Große Abenteuer in den eigenen vier Wänden? In der Tradition des französischen Schriftstellers Xavier de Maistre begibt sich Katerina Poladjan auf eine „Reise um ihr Zimmer“. Die Lage ist neu im trauten Heim, es gibt neue Vorbilder für soziale Verantwortung.
"Nicht zu nah, nicht zu nah, Sie kommen aus der Kälte." Mit diesem Satz hält Ilja Ilijitsch Oblomov seine Besucher auf Distanz, wenn sie von der Straße in seine überheizte Stube eintreten. Er liegt in seinem weichen Hausmantel gehüllt auf dem Diwan und lässt sich von den Unwägbarkeiten draußen in der Welt berichten.
Ich lege das Buch beiseite und stehe auf, später als sonst, denn das Kind muss nicht zur Schule. Das Kind sagt, es seien doch irgendwie Ferien. "Nein, nein, falsch gedacht", sage ich, aber das Kind dreht sich um und schläft weiter.
Gott sei Dank, dass es den Balkon gibt
Draußen scheint die Sonne. Ich trete auf den Balkon, gieße die im Winter verstorbenen Pflanzen und stelle fest, dass es einmal schöne Blumen gewesen sein müssen. Mit einem Kaffee setze ich mich auf den Balkon und danke Gott, dass es ihn gibt. Den Balkon.
Nein, ich werde jetzt nicht singen und werde auch mein angestaubtes Akkordeon nicht hervorholen.
Stattdessen denke ich über Solidarität nach. Oblomov und Bartleby sind die neuen Role-Models sozialer Verantwortung, denke ich, und dass das eine hübsche Pointe ist in einer Gesellschaft, die Geschwindigkeit und Leistung zu Leitmotiven erhoben hat. Eine Freundin will mich treffen, "I prefer not to", antworte ich.
Der wunderbare Ablativ
Darüber fällt mir wieder ein, dass das Kind für die Schule üben müsste, die gute Gelegenheit nutzen müsste, Versäumnisse aufzuholen. Heute könnte sich das Kind mit dem Ablativ beschäftigen. Eine wunderbare Idee, das Kind wird sich freuen.
Die Mutter ruft an und verkündet stolz, man könne statt Desinfektionsmittel ein Mittel gegen Fußpilz verwenden, denn das töte auch alle Viren ab und sei in den umliegenden Drogerien problemlos zu bekommen. "Aber du sollst doch nicht vor die Tür gehen, du gehörst zur Risikogruppe", sage ich und sie verstummt mitten im Satz. Bestimmt denkt sie über das Wort Risiko nach. Oder über das Wort Gruppe.
Mittlerweile ist das Kind aufgestanden und verlangt nach sehr heißem Kakao und frischen Brötchen. Ich drohe mit dem Ablativ. Aus dem Radio tönen Stimmen verschiedener Virologen, dann wird die Telefonnummer des psychiatrischen Notdienstes vorgelesen.
Stehengebliebene Gedanken
Ich schicke das Kind mit einem Comic in sein Zimmer und mache eine Wanderung durch die anderen Räume. Eins, zwei. Ich sehe erschreckend viel Staub und unnütze Gegenstände in einer Schale: Knöpfe, ein Radiergummi, ein kaputter Kugelschreiber, eine leere Handcremetube, ein Schlüssel, der nirgendwo passt, verschiedenfarbige Legosteine. Was sind diese Gegenstände traurig in ihrer Nutzlosigkeit. Irgendwie auch stehengebliebene Gedanken. Ich wandere zurück zu Raum eins, und der Mann fragt mich, was ich schon wieder hier wolle, er sei mit Telearbeit beschäftigt und dürfe nicht gestört werden.
Ich wandere in Raum drei und nehme dem Kind den Comic weg. Dann, nach dem Kakao und vor dem Ablativ, beschäftigen wir uns mit dem Bruchrechnen. Was ich damals schon nicht verstanden habe, verstehe ich jetzt erst recht nicht. Das Kind ist verwirrt. Es will an die Luft. "Es gibt aber keine Luft mehr", brülle ich, und das Kind ist noch verwirrter. Keine Luft mehr? Nein, so geht es nicht.
Blick vom Sofa
Eine kahle Baumkrone ragt in den Ausschnitt, den das Fenster von Raum zwei von der Welt freigibt. Ich setze mich mit dem Kind aufs Sofa, und wir beobachten einen Vogel, der geschäftig seinen Nestbau plant. Mir scheint, er genießt die Ruhe in den Straßen.