Katerina Poladjan: "Hier sind Löwen"
S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main
288 Seiten, 22 Euro
Die Leerstellen der Geschichte
06:08 Minuten
Eine Frau erforscht die Geschichte ihrer armenischen Vorfahren. Ihre Recherche führt zurück in die Zeit des Völkermords von 1915. Eine poetische Spurensuche, in dem vieles nur angedeutet bleibt.
"Hic sunt leones", "Hier sind Löwen": So beschrifteten die Römer solche Gegenden auf den Landkarten ihres Reichs, die außerhalb ihrer Grenzen, ihres Rechtssystemslagen lagen – und auch jenseits ihres Vorstellungsvermögens. Dahinter vermuteten sie die Wildnis.
Katerina Poladjan schickt ihre Ich-Erzählerin Helen Mazavian im Roman "Hier sind Löwen" auf die Reise in eine persönliche Terra Incognita. Leerstellen und Lücken durchziehen die Geschichte ihrer armenischen Vorfahren, über die Helen, eine gebürtige Moskauerin, auf Druck ihrer Mutter eher halbherzig mehr erfahren will. Sie fährt nach Armenien, ans Schwarze Meer und nach Anatolien. Mehrere Wochen verbringt sie im Zuge eines Kulturaustauschs als Buchrestauratorin im armenischen Handschriftenarchiv in der Hauptstadt Jerewan.
Faszinierende Familienbibel
Auf einer zweiten Erzählebene führt der Roman ins Jahr 1915. Die 14-jährige Anahid und ihr sechsjähriger Bruder Hrant entkommen dem Genozid an den Armeniern in ihrer Heimatstadt Ordu am Schwarzen Meer. Sie erleben Schreckliches: die Ermordung der Mutter und die Deportation der anderen Familienmitglieder, wochenlanges Umherirren in den Wäldern und Bergen und schließlich die Trennung. Ihre vermutliche Rettung verliert sich im Ungefähren, wird ebenfalls zu einer Leerstelle.
Zurück bleibt eine alte Familienbibel, die Anahid während der Flucht bei sich trug. Hundert Jahre später liegt das Buch in den Händen der deutschen Buchrestauratorin Helen Mazavian im armenischen Handschriftenarchiv. Der Kreis zwischen Geschichte und Gegenwart schließt sich. Denn in der Nachschrift dieser Familienbibel, im sogenannten Kolophon, finden sich Notizen und Widmungen, Erinnerungen, Hinweise auf Orte und Jahreszahlen und somit das weitere Schicksal ihrer Besitzer.
Plastisch und farbenreich schildert Poladjan Helens Arbeit und deren wachsende Faszination für das 300 Jahre alte Buch. Sinnlich und mit großer Beobachtungsgabe nimmt sie die Leser mit in die Werkstatt und den Alltag im armenischen Handschriftenarchiv. Die unterschiedlichen Menschen aus Helens Umfeld geraten dabei zunehmend stärker in den Blick.
Da sind die sowjetisch geprägten Kolleginnen, die lange Teepausen machen und sich für private Dinge interessieren, da ist der schwule Kollege Vardan, der das Land resigniert bald Richtung Schweden verlassen wird. ("Hier sind Löwen" spielt noch vor der friedlichen Revolution 2018.) Und da ist vor allem Levon, der Sohn ihrer Archivchefin, mit dem Helen eine nicht ganz einfache Beziehung beginnt.
Facettenreiche Darstellung Armeniens
Es gelingt Katerina Poladjan, über ihr Figurenpersonal auf so poetische wie lebendige Weise diverse Facetten Armeniens aufzublättern und dem Land authentische Konturen zu verleihen. Thematisiert wird die Last des allgegenwärtigen Völkermords genau so wie die Gastfreundschaft und Kultur der Armenier. Es geht um Korruption und Desillusionierung ebenso wie um den anhaltenden Konflikt mit Aserbaidschan um Bergkarabach.
Der schweigsame Levon, Musiker und Angehöriger der armenischen Streitkräfte, stirbt unerwartet bei einem Unfall. Helen, die trotz eines Lebensgefährten zu Hause in Deutschland bereits mit dem Gedanken gespielt hatte, in Armenien zu bleiben, macht sich wieder auf den Weg.
Der "Kitschfalle" entgeht die Autorin trotz solcher Melodramatik dank einer klaren, schönen Sprache, die den diversen Lücken und Leerstellen in Geschichte und Gegenwart eine adäquate Form gibt. Vieles bleibt unausgesprochen, manches nur angerissen oder angedeutet. Gerade daraus aber entsteht tiefe Komplexität.
Und es wird deutlich: die Autorin – in Moskau geboren als Enkeltochter eines Armeniers, der den Genozid als Sechsjähriger überlebte – hat den Stoff ihres Buchs weit über literarische Zwecke hinaus durchdrungen.