Katerina Poladjan: "Zukunftsmusik"
© S. Fischer Verlag
Zwischen Trauer und Hoffnung in der späten Sowjetunion
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Katerina Poladjan
ZukunftsmusikS. Fischer, Frankfurt am Main 2022186 Seiten
22,00 Euro
Einen sowjetischen Alltag voller Beschränkungen und ohne Individualität beschreibt die in Moskau geborene Autorin Katerina Poladjan. Ihre Figuren ahnen nicht, dass aus dem Radio zwar Trauermusik tönt, aber eine Ära der Hoffnung eingeläutet wird.
„Zukunftsmusik“ heißt der vierte Roman von Katerina Poladjan, der dem Titel zum Trotz die sowjetische Vergangenheit in den Blick nimmt. Erzählt wird von einem einzigen Tag im März 1985, als aus dem Radio wieder mal Chopins Trauermarsch scheppert und mit dem Tod des Generalsekretärs Tschernenko innerhalb von zweieinhalb Jahren bereits der dritte greise Staatsführer abtritt.
Stagnation und bleierne Schwere prägen die späte Phase der Sowjetunion und bilden den atmosphärischen Hintergrund des Romans. Zugleich klingt die Kraft einer „neuen“ Musik durch, im übertragenen Sinn als Aufbruch, aber auch konkret in der Erwähnung von nonkonformistischen Songschreiberinnen wie Janka Djagileva wie auch diverser Leningrader Underground-Bands.
Niemand ahnt von der bevorstehenden Zeitenwende
An diesem 11. März 1985 bricht mit dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow eine neue hoffnungsvolle Ära an. Die Romanfiguren wissen nichts davon. Sie leben in einer sibirischen Stadt weit weg von Moskau in einer Kommunalka, einer Gemeinschaftswohnung, in der sechs Mietparteien das Bad und die Küche miteinander teilen müssen.
Die Menschen sind wahllos zusammengewürfelt, vom Zugschaffner bis zum Professor, und erleben am eigenen Leib das demütigende Experiment einer sowjetischen Gesellschaft ohne Privatsphäre oder Individualität. Manche Bewohner wollen trotz allem an die große Idee glauben, wie etwa der „brave Kommunist“ Matwej Alexandrowitsch, selbst wenn es in der ganzen Stadt nicht mal Schokolade zu kaufen gibt: „Aber verzichten müssen wir doch gar nicht, wir müssen nur geduldig warten, bis es wieder welche gibt.“
Beschränkungen prägen den Alltag
Zu viert in einem einzigen Zimmer hausen die 20-jährige Janka mit ihrer kleinen Tochter Kroschka (Krümel) sowie Jankas Mutter und Großmutter. Janka, die nachts in einer Glühbirnenfabrik arbeitet und wütende Songs schreibt, plant für den Abend ein Küchenkonzert und wartet vergeblich auf eine Gitarre.
Ihre Großmutter Warwara hilft als pensionierte Hebamme im Krankenhaus aus und entbindet an diesem Tag eine überforderte 18-Jährige, die der resoluten Oma gern spontan ihr Kind überlassen würde.
In kurzen, dichten Szenen folgen wir den Figuren durch ihren Tag und durch ein vielfach beschränktes Leben. Mit wenigen Worten, in klugen Aussparungen, skizziert Poladjan in Rückblenden wesentliche Prägungen der Biografien, lässt Sehnsüchte und Ängste zart aufschimmern. Am Ende des Romans stehen alle drei Frauen an Weggabelungen ihres Lebens.
Verbeugung vor der russischen Literatur
Existenzielle Themen werden in diesem Roman verhandelt: Wie wollen und wie können wir in diesem Land leben? Mit Wut und Scham einerseits, auf der anderen Seite mit Humor und Fantasie und dem Traum von einer besseren Existenz.
Leichtfüßig vermeidet Katerina Poladjan jegliche Melodramatik oder Larmoyanz, auch wenn tragische Dinge in diesem Roman passieren. „Igraem“ – „Lasst uns spielen“ hat sie ihrem Buch als Motto vorangestellt. Das Spiel ist gleichermaßen lustvoll wie grausam in diesem liebevollen und differenzierten Porträt des russischen (und sowjetischen) Menschen.
Auch stilistisch ist die Lektüre dieses trotz seines geringen Umfangs lang nachhallenden Romans ein Genuss, nicht zuletzt dank der kleinen Verbeugungen vor der Literatur Tschechows und anderer großer russischer Schriftsteller. Gerade in diesen Zeiten erinnert uns dieser Roman, dass die Menschen in Russland bessere Regime verdient haben.