Kateřina Tučková: Das Vermächtnis der Göttinnen
Eine merkwürdige Geschichte aus den Weißen Karpaten
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová
Deutsche Verlagsanstalt, München 2015
416 Seiten, 22,99 Euro
Mährens magische Vergangenheit
Es heißt, am Rande von Mähren, in den weißen Karpaten, lebten bis in die 1950er-Jahre Frauen mit magischen Kräften. Die Autorin Kateřina Tučková erzählt die Geschichte einer Frau aus einer solchen Familie. "Das Vermächtnis der Göttinnen" ist ein Buch, das Fiktion und Fakten virtuos verknüpft und Seite für Seite eine extreme Sogwirkung entwickelt.
Im äußersten Südosten Mährens, in den weißen Karpaten an der Grenze Tschechiens zur Slowakei liegt die Gemeinde Žítková. Noch bis in die 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein war das abgeschiedene Dorf in den Bergen abgeschnitten von der "Zivilisation". Trotzdem war der Ort wohlbekannt. Menschen mit körperlichen oder psychischen Problemen machten sich auf den Weg, um hier eine der "Göttinnen" zu konsultieren. So nannte man in der Region die Frauen, die über besondere Gaben verfügten, sich mit Kräutern und anderen Heilpflanzen auskannten, chiropraktische Fähigkeiten hatten, oder auch mit magischen Kräften scheinbar Einfluss auf das Wetter nehmen konnten.
Im Dienste für Himmlers Hexen-Kartothek
Aus einer Familie solcher Göttinnen stammt Dora Idesová, Jahrgang 1958, die fiktive Hauptfigur des neuen Romans von Kateřina Tučková. In Rückblenden und Zeitsprüngen schält sich Doras Leben über einen Zeitraum von rund fünf Jahrzehnten heraus. Noch weiter zurück reichen die Ergebnisse ihrer eigenen Recherchen als spätere Ethnographin in tschechischen und polnischen Archiven Anfang der 2000er Jahre. Zunächst geht es ihr nur um das Schicksal der eigenen Tante: Terézie Surmenová, genannt die Surmena, eine der letzten Göttinnen von Žítková und die Frau, bei der Dora nach der Ermordung ihrer Mutter zusammen mit dem kleinen Bruder aufwächst. Als "fortschrittsfeindliche, kleinbürgerliche" Person wird die Surmena Anfang der 1970er Jahre von den Kommunisten in die Psychiatrie verfrachtet und mit falscher Medikation und Elektroschocks zugrunde gerichtet. Dora und der körperlich-geistig kranke Bruder kommen in unterschiedliche Heime.
Je intensiver sich Doras Aktenstudium ein Vierteljahrhundert später entwickelt, desto tiefer führt es auch den Leser in die Historie: bis in die Nazi-Zeit, als sich im Dienste für Himmlers Hexen-Kartothek der sudetendeutsche Schriftsteller Friedrich Norfolk in Südostmähren aufhielt. Seine Korrespondenz mit einer anderen realen Figur, Rudolf Levin, dem damaligen Leiter des Himmlerschen Hexen-Sonderauftrags, findet Dora im Archiv von Posen. Aus solcherlei hyperrealistisch abgebildeten Forschungsergebnissen entsteht ein dichtes stoffliches "Hinterland", das über die eigene Familiengeschichte hinaus die Verfolgung bzw. Instrumentalisierung der weisen Frauen quer durch die Generationen und die wechselnden politischen Systeme beschreibt.
Fakten und Fiktion sind akribisch verschränkt
Jenseits der thematischen Einzigartigkeit und der akribischen Verschränkung von Fakten und Fiktion liegt die Kunstfertigkeit des Romans in der Raffinesse seiner Komposition und in der Vielfalt seiner stilistischen und sprachlichen Mittel. Bilderreiche Passagen aus der Perspektive der achtjährigen Dora werden abgelöst von drastischen Traumszenen von Frauen auf dem Scheiterhaufen. Die Armut des Dorfes Žítková und einiger seiner dem Alkoholismus verfallenen Bewohner wird der sterilen Atmosphäre der unterschiedlichen Archive sowie ihrer abgestumpften Beamten gegenübergestellt. Schwärmerische Ausbrüche in den Briefen der Nazi-Schergen über neue Magie-Erlebnisse wechseln mit der nüchternen Behördensprache der Staatssicherheit und den menschenverachtenden Medizinerbriefen aus den 1970er Jahren. Zusammengehalten wird dieses vielgestaltige Mosaik von der fein gezeichneten Hauptfigur Dora und ihrer glaubwürdigen Suche nach Wahrheit und Aufklärung. Am Anfang und am Ende des Romans steht jeweils ein Mord. Die Sogwirkung des Buchs beruht nicht zuletzt auf der Aufklärung dieser Verbrechen, wobei die Gratwanderung zwischen Kitsch und Kunst hier vielleicht nicht immer ganz gelingt.
In ihrem Nachwort bemerkt die Autorin, dass ihr Roman entstanden sei auf der Basis wahrer Frauenschicksale, deren Familien zum Teil bis heute in Žítková leben. Auch das mag seinen außergewöhnlichen Erfolg erklären. Mit mehr als 100.000 Exemplaren hat sich in den letzten Jahren kaum ein Buch in der Tschechischen Republik so gut verkauft. Es erhielt zahlreiche bedeutende Literaturpreise des Landes und wurde in 12 Sprachen übersetzt. Die Gemeinde Žítková erlebt seit Erscheinen der Originalausgabe 2012 nach wie vor einen gewaltigen Besucherandrang.