"Katharina Grosse. It Wasn't Us"
Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart - Berlin
14. Juni 2020 bis 10. Januar 2021
Farbenfrohes Aufbegehren gegen die Kommerzialisierung
05:19 Minuten
Das Museum Hamburger Bahnhof in Berlin eröffnet nach der Coronapause mit einem riesigen Farbspiel der Künstlerin Katharina Grosse. Auf knapp 180 Meter Länge ergießt es sich über das Museumsinnere nach draußen in die Stadt.
Ja, man darf mit dem Fahrrad über das Kunstwerk fahren. Die Reifen gleiten über die Malerei wie über Wellen von Meeresblau und Abendrot. Links brandet die Farbe gegen die Wände der Berliner Rieckhallen. Hinter dem Museum Hamburger Bahnhof hat die Künstlerin Katharina Grosse zwischen Grasflächen und hochpreisigen Appartementhäusern mit Concierge-Service einen wilden Parcours angelegt.
"Ich stelle mir vor, wie ich ein Bild einschleusen kann in eine gegebene Situation, in ein Geflecht, so dass sich die Hierarchie dieses Geflechts neu organisieren muss. Die gegebene Situation ist alles, die Halle, das Außen, die vielen Stimmen der Leute, die drumherum wohnen. Mein Team, die Zeit, das Wetter, der Wind, der Regen, alles, was die Situation bestimmen kann, wird Teil der Überlegungen oder auch der Handlungen", sagt Katharina Grosse.
Eine Einladung, neue Handlungsmöglichkeiten zu finden
Hamburger Bahnhof lautet die noble Wohnadresse. Während die Immobilienfirmen von der Nachbarschaft zum Museum der Gegenwart profitieren, sind sie gerade dabei, diesem Museum einen Flügel zu stutzen. Die Rieckhallen, Domizil der Friedrich Christian Flick Collection, sollen Bürotürmen weichen.
Vor dem Hintergrund der Kommerzialisierung des Terrains und der Domestizierung der Natur ist das Werk von Katharina Grosse ein einziges Aufbegehren, eine Einladung, neue Handlungsmöglichkeiten zu finden.
Dazu Grosse: "Die Alternativen, die mir einfallen, was möglich wäre in der Situation, die so organisiert aussieht, hier in der Institution mit den Wohnräumen drumherum, mit der Halle und den kleinen Gärten und Sitzgelegenheiten und den Autos, die aus der Tiefgarage kommen und so sauber geputzt sind. Diese fast nicht mehr änderbare Befindlichkeit lässt sich eben doch durch einen Vorschlag ändern, so wie ich es jetzt mit dem Bild gezeigt habe, und das ist jetzt auch genau meine Aufgabe: Alternativen aufzuzeigen, für Möglichkeiten, die wir normalerweise nicht sehen."
"It Wasn't Us" - Wir sind es nicht gewesen. Auf einmal geht es: Auf einmal darf man in die Große Bahnhofshalle durch die Hintertür schlüpfen. Im Innern ändert sich der Rhythmus der Malerei, die Geschwindigkeit erhöht sich. Abgestürzter Düsenjet, geschrotteter Bolide oder gesprengter Eisblock? Jedenfalls ein Bühnenbild für das Drama Farbe.
Entstehung eines multidimensionalen Kunstwerks
Da türmt sich vor den Augen ein raumfüllendes Stryroporgebilde auf, mit Spalten und Höhlen, die Oberfläche windschnittig ausgekehlt. Da jagen sich blaue Farbfetzen gegenseitig über die Seitenflächen, da trieft dunkles Grün wie schmelzendes Eis von dem zerklüfteten Grat. Die Farbe geht von der Skulptur auf den Fußboden über. Gabriele Knapstein, die Leiterin des Hamburger Bahnhof, hat beobachten können, wie das Werk entstand. Erst brachten LKW den Bildträger aus Styropor.
"Und dann kam die Farbe. Das war ein ganz beeindruckender Moment. Nachdem hier über Wochen die Folie auf dem Boden aufgetragen war, die weißen Körper bearbeitet wurden, dann kam die Sensation der Farbe. Zunächst ein Gelb, dann ein Rot, ein Blau, ein Grün. Und dann veränderte sich das Bild jeden Tag. Denn Katharina Grosse hat jeden Morgen begonnen wieder eine nächste Malschicht auf dieses sehr vielteilige und multidimensionale Werk aufzutragen", sagt Knapstein.
Katharina Grosse belegte nach dem Abitur einen Kurs in Landschaftsmalerei, sie studierte in Düsseldorf bei Gotthard Graubner, dem Meister der farblichen Abstraktion. Für ihr erstes Raumbild übersprühte sie Bett und Wände ihres eigenen Zimmers. Im Hamburger Bahnhof war Katharina Grosse vor zwanzig Jahren schon einmal zu Gast, als Nominierte für den Preis der Nationalgalerie.
Da waren flammend rote Farbflächen über Eck gestellt, so dass man beim Betrachten darin aufgehen konnte. Sehr konsequent hat sie seither den politischen Grundgedanken der Abstraktion wieder belebt - die grenzenlose Freiheit. Dabei spielt es für die Künstlerin keine Rolle, ob sie den Pinsel oder die Sprühpistole benutzt - alles ist Malerei.
"Das Besondere an der Farbe ist, dass sie überall landen kann, dass sie keine Ortsgebundenheit hat, dass sie leichtfüßig überall sein kann, wie eine Art Film, der sich über etwas hinwegsetzt. Die Farbigkeit, die ich hier herstelle, ist natürlich, dass alle Farben gleichzeitig wie so eine Art Energiestrang, wie ein Strom miteinander verdreht werden und da kann man dann immer wieder sehen, was ist zu welchem Zeitpunkt an welcher Stelle passiert", sagt Grosse.
Das mächtige Kunstwerk wird nach dem Ende der Ausstellung wieder verschwinden. Diese Unabhängigkeit ist eine furchtlose Alternative zur Ökonomisierung des innerstädtischen Raums.