Katharina Hacker: "Darf ich dir das Sie anbieten? Minutenessays"
Berenberg Verlag, Berlin 2019
112 Seiten, 18 Euro
Die Perspektive wechseln
05:27 Minuten
Katharina Hacker verpackt in der kleinen Form große Wahrheiten. Über das Sterben und über das Älterwerden etwa. Ihr Band "Darf ich dir das Sie anbieten" versammelt Philosophisches ebenso wie Reflexionen über Kuscheltiere.
Manchmal reicht ein Buchtitel, der sogleich den Charme eines Buches aufblättern und einen Freiraum aufstoßen kann - für neue, ungewöhnliche Gedanken. Katharina Hacker hat so einen gefunden, den vielleicht schönsten Buchtitel des Jahres. "Darf ich dir das Sie anbieten?" fragt sie in ihrem originellen Kurzessay-Band und sucht nach dem richtigen Abstand zu den Dingen und Menschen. Nicht, um sich abzugrenzen, sondern, um die Entfernung zu huldigen, die wieder einen freien Blick aufeinander zulässt. Ihr Essayband ist eine schöne Einladung, die Perspektive zu wechseln.
"Minutenessays" heißt er im Untertitel. Kurzes also. Ganz Kurzes. Manchmal nur eine Impression, Gedankenexperimente. "Das ist ein Notizbuch", schreibt die Berliner Autorin gleich auf der ersten Seite, "kurze Essays, die man zwischen zwei Haltestellen lesen kann oder im Stau". Essays heißt schließlich, "der Anfang von etwas". Also Geschichten, die auch Romane hätten werden können, die "Vorband" gewissermaßen. Genauso ist es gedacht, ein Bändchen ohne Seitenzahlen, dazu mit vielen leeren Seiten, die den eigenen Gedanken den Weg ins Offene weisen. Reinschreiben und Ergänzen ist erwünscht.
Großzügig im Alter
Katharina Hacker verpackt in der kleinen Form große Wahrheiten. Es geht um Freundschaft, Kinder, das Alter, all das, was sich aus Alltäglichem heraushebt, hängen bleibt oder verweht. Es geht um das Wesen der Tiere, das Leben von Kuscheltieren, Merkwürdiges, Philosophisches.
Lässig denkt die 1967 geborene Autorin über das Älterwerden nach, dass einem "Witz, Charme und Großzügigkeit" im Alter blühen lassen, "vorher blüht‘s sich von selber". Auch gegen das Sterben alter Menschen sei eigentlich nichts einzuwenden, "nur dagegen, dass sie auch anderntags noch tot sind und (…) gar nicht mehr aufhören damit." Und wie tröstlich ihr Denkspiel darüber, etwas nicht zum richtigen Zeitpunkt verstanden zu haben, zu lieben zum Beispiel, oder jemanden richtig zu verabschieden. Was man nicht verstanden hat, ist darum aber nicht verloren, "es wartet", lesen wir weiter und Katharina Hacker zitiert hier Martin Buber, "es ruht auf dem Herzen".
Was im Leben wichtig war und ist
Katharina Hacker ist der Sprache buchstäblich auf den Fersen. In federleichten Miniaturen, zart und elegant festgehalten, aber immer klar und scharf, unüberhörbar im Gebrabbel unserer meinungs- und zuschreibungsgeladenen Zeit. "Wie lustig möchte man sagen. Eine Meinung, schon wieder eine!" Inmitten des unablässigen Rauschens aus Worten um uns herum, ruft Katharina Hacker buchstäblich die Sprache an, probiert Worte und Sätze aus und entdeckt ihren ursprünglichen Kern. Fast jedes Wort, fast jeder Satz hält eine Überraschung für sie parat hat. So kann sie eine kleine Hymne auf das verkannte Wörtchen "nett" halten und seine alte Bedeutung von klar und klug zurückerobern. "So ist ein netter Mensch einer, der die Gabe hat, sich der Welt zuzuwenden."
Für Katharina Hacker ist die deutsche Sprache noch immer nicht zu Ende entdeckt. Nicht nur darin folgt sie der langen Spur des 90-jährigen Großdichters und Großmeisters der kleinen Form, Hans Magnus Enzensberger. Gerade hat er in seinem Buch "Fallobst" seine Lebensernte in drei Körben ausgebreitet, mit einem dieser nie ganz ernst zu nehmenden Understatement-Untertitel "Nur ein Notizbuch", und reflektiert in kurzen und klugen Gedankenexperimenten darüber, was ihm im Leben wichtig war und ist. Nun betritt auch die preisgekrönte Romanautorin Katharina Hacker das "Märchenland zwischen Alltag und Philosophie" und kultiviert aufs Schönste den Kurzessay. Nicht nur ein Minutenglück!