Katherine May: "Überwintern. Wenn das Leben innehält"
Übersetzt von Marieke Heimburger
Insel Verlag, Berlin 2021
272 Seiten, 22 Euro
Katherine May: "Überwintern. Wenn das Leben innehält"
Eine "Winterweltreise": Katherine May mit "Überwintern. Wenn das Leben innehält". © Deutschlandradio / Insel Verlag
Zwischen hell und dunkel
06:05 Minuten
Die britische Autorin Katherine May hat eine Lebenskrise genutzt, um ein Buch zu schreiben. Ergebnis: ein essayartiger Text zwischen Selbstbeobachtung, Reiseliteratur und Wissensvermittlung, der voller schöner Ideen und überraschender Einfälle steckt.
"Eine großartige Erinnerung daran, dass wir alle uns gleichermaßen unfertig fühlen" hieß es in "The New York Times". Und der englische "Guardian" versprach "ein Buch wie ein warmer Mantel".
Köstlich. Zumal Katherine May, Autorin und Lehrerin im Creative Writing, laut Verlag mit ihrem Buch hilft, sich in Zeiten des Umbruchs und des inneren Aufruhrs auf das Wesentliche zu besinnen.
Leidenschaftlich und sehr persönlich erzählt die Britin von ihren Zeiten, als ihr Leben "auf Eis" lag. Als sie aufgrund einer Malabsorption - einer Verdauungsstörung im Darm - unter heftigen Krämpfen litt und schließlich ihre Arbeit kündigte, weil bald noch eine Depression dazu kam.
Zeiten des Rückzugs
Mit aller Kraft und viel Fantasie sucht sie nach Auswegen, hört tief in sich hinein und gibt so dieser Zeit des Rückzugs einen neuen Sinn.
"Winter"-Zeit nennt May diese Phase, in der sich die Übergänge zwischen hell und dunkel, wachen und schlafen verändern. Folgerichtig ist ihr Buch in sieben Kapitel eingeteilt – von September bis März.
"Jeder durchlebt irgendwann mal einen Winter. Und bei manchen kehrt er immer wieder zurück", schreibt sie.
In "ihrem" Winter wird sie vierzig, ihr Mann erleidet einen Blinddarmdurchbruch und sie fürchtet, dass er stirbt. Sie stürzt sich in Aktionismus: backt Bagels, kocht Gemüse ein, hängt Lichterketten auf.
Verliert sich dabei aber immer mehr selbst, fühlt sich ausgebrannt und wacht mitten in der Nacht auf, zu jenen "dunkeln Stunden der Schlaflosigkeit, wenn mein Geist mitten in der Nacht beschließt, glockenwach zu sein".
Auf der Suche nach Ruhe und Ausgewogenheit reist die Britin nach Island und nach Stonehenge. Fragt sich, was Dunkelheit und Licht bedeuten.
Sie feiert das Winterfest Santa Lucia, Halloween und die Wintersonnenwende. Besucht Samen und Druiden. Und während sie bei all dem über die Kälte und den Kreislauf des Lebens nachdenkt, geht sie ins Dampfbad, lässt sich die Liebe der Finnen zur Sauna erklären, schwimmt irgendwann im eiskalten Meer und fängt an zu stricken.
Über 260 Seiten mäandert dieser essayartige Text zwischen Selbstbeobachtung, Reisebeschreibung, Lektüretipps und Wissensvermittlung. Es geht hier zum Beispiel auch um Haselmäuse.
Haselmäuse in nassen Höhlen
Eine meiner persönliche Lieblingsstellen ist jene, bei der May ausgiebig beschreibt, was die Haselmäuse tun, um mit einem fast verdreifachten Gewicht in den Winterschaf zu fallen. Zauberhaft, den ausführlichen Schilderungen der kuschligen Fettklößchen, die in nassen Höhlen schlafen, um nicht auszutrocknen, kann man sich schwer entziehen.
Wie auch der zweiten absoluten Lieblingsbuchstelle, wo es um den ersten Neujahrsschwimm-Versuch geht, der sehr zögerlich beginnt, aber gerade deshalb extrem lustig ist:
"Da erwischte mich die Kälte: eine gewaltige kalte Wand, die mir vollkommen den Atem raubte. Es war absolut. Es war fies. Im verzweifelten Bemühen, eine Schwimmzug zu tun, zappelte ich mit den Armen."
Sie wollte, so schreibt May ganz am Ende, ein Buch schreiben über eine "Winterweltreise" und über Menschen, die den Winter "auf extreme Weise" überstehen, und das "zwischen zwei persönlichen Wintern". Doch dann kam alles anders: es gab mehrere persönliche Kälte-Dunkel-Phasen, die das Schreiben fast unmöglich machten.
An manchen Stellen spürt man das auch: Da droht die Autorin sich in der schieren Detailfülle ihrer persönlichen Leiden zu verlieren. Etwa, wenn zur Darmerkrankung die Depression, ein spät diagnostiziertes Asperger-Syndrom und eine schwierige Schwangerschaft dazukommt.
Oder später die Schulangst des Sohnes und der Hausunterricht der besorgten Mutter: Das kratzt mitunter an den Nerven der Lesenden. Was kommt denn noch, möchte man da rufen?
Aber tatsächlich wirkt Katherine Mays Buch positiv nach. Es steckt voller kluger Ideen, schöner Twists und überraschender Einfälle, an die man sich wahrlich gerne erinnert. Und so blättert man vor und zurück. Liest Stellen erneut – und hofft, dass man sich im nächsten eigenen Winter einige dieser Überwinterungshilfen zu eigen machen kann.