Perestroika im Vatikan
Der Papst soll kein Halbgott mehr sein und die katholische Kirche nicht mehr "absolute Monarchie". Der Vatikanexperte Marco Politi bezeichnet den Reformwillen von Papst Franziskus als revolutionär.
Philipp Gessler: Papst Franziskus hält die Welt auf Trab – fast wöchentlich verblüfft er seit seiner Wahl Mitte März den Erdenrund, jedenfalls die katholische Glaubensgemeinschaft. Anfang dieser Woche veröffentlichte er das Lehrschreiben "Evangelii Gaudium – Die Freude des Evangeliums". Es ist eine Art Regierungserklärung. Und wenn er das durchsetzen kann, was er dort verspricht – unter anderem eine Dezentralisierung der katholischen Kirche und eine radikale Neuorientierung an den Armen –, dann wird man die Kirchengeschichte bald in eine Zeit vor und nach Franziskus einteilen müssen.
Mit dem weltweit hoch angesehenen Vatikanexperten und Publizisten Marco Politi habe ich vor der Sendung über diesen unglaublichen Pontifex Maximus gesprochen. Meine erste Frage an ihn war, ob er dem zustimme, was viele sagen, dass Franziskus in Rom gerade für die Weltkirche eine Revolution anzettele – oder ist das Wort zu groß?
Marco Politi: Nein, ich glaube, man kann davon sprechen, man kann auch von einer Perestroika sprechen, denn der Papst will ja eigentlich einen Umbau der Kirche; sie soll nicht mehr eine absolute Monarchie sein, wo der Papst eine Art Halbgott ist. Also die Rolle des Papstes muss man wieder umgestalten, so wie es schon Johannes Paul II. vorgeschlagen hatte in seiner Enzyklika "Ut unum sint", dass man auch das mit den anderen christlichen Kirchen bespricht. Es sollen den Bischofskonferenzen feste Kompetenzen gegeben werden, und die Bischöfe in der Synode sollen ein Mitspracherecht haben, um die großen Entscheidungen zu treffen, die über die Probleme der Kirche in der heutigen Welt und auch über die Moralprobleme.
Gessler: Jetzt ist ja die Einschränkung, dass die Frauen nach der Ansicht von Franziskus nicht Priesterinnen werden sollen, trotzdem alles andere ist doch wirklich erstaunlich und radikal. Wie kann es eigentlich sein, dass ein Papst, der von einem so konservativen Kardinalskollegium gewählt wird, dann am Ende so radikal ist?
Politi: Ja, eigentlich ist es wahrscheinlich so, dass das Kardinalskollegium nicht so konservativ war, wie man es sich vorgestellt hat, denn solange ein Papst regiert – in diesem Falle vor der Abdankung Ratzingers –, solange Benedikt XVI. regierte, waren ja alle still, und deswegen wusste man auch nicht, wie stark die Reformkräfte in der Kirche sind.
Ganz bestimmt sind die Reformkräfte nicht in der Mehrheit, aber für verschiedene Probleme gibt es verschiedene Mehrheiten, zum Beispiel die Mehrheit der Kardinäle im Konklave wollten ganz bestimmt, dass man Sauberkeit und Transparenz in die Geldsachen bringt, dass man die Bank des Vatikans reformiert und auch dass man die Kurie reformiert, dass sie weniger bürokratisch ist und weniger herrisch ist.
"Es gibt Widerstände in der Kurie und in der Weltkirche"
Gessler: Wie schätzen Sie das ein, Herr Politi, wie viel Widerstand gibt es denn innerhalb der Kurie gegen diesen Kurs von Franziskus? Kann man das irgendwie quantifizieren?
Politi: Ja, man muss erstens nicht nur von der Kurie sprechen, denn in der Kurie gibt es Reformkräfte – es gab schon während der Wahlen Kardinäle, italienische Kardinäle und nicht italienische Kardinäle, die wollten keinen Papst aus Italien, keinen Papst aus der Kurie, keinen Papst aus Europa, die wollten den Sprung in die Dritte Welt machen, wie es dann mit der Wahl von Franziskus geschehen ist. Also die Widerstände gibt es in der Kurie und auch in der Weltkirche. Bis jetzt sind es immer Widerstände hinter den Kulissen.
Gessler: Kann man denn irgendwelche Köpfe dieses Widerstandes benennen?
Politi: Bis jetzt nicht, denn ein Kopf ist ganz bestimmt gefallen, das war der Kopf von Kardinal Piacenza, er war der Chef der Kleruskongregation, also sagen wir so, des Ministeriums der ganzen Priester auf der Welt, und man wusste, er war sehr konservativ – es gab die Möglichkeit, dass er auch Staatssekretär mit einem anderen Papst werden sollte –, aber sonst haben sich eben die anderen Kardinäle, die vielleicht nicht einverstanden sind, oder Bischöfe bis jetzt nicht in die erste Reihe gestellt.
Gessler: Aber der Bischof Müller, also der Präfekt der Glaubenskongregation in Rom, der gehört doch eher zu den Widerständlern, oder nicht?
Politi: Ja, da ist es zum Beispiel interessant zu sehen, dass aber der Papst gesagt hat, dass er weiter seine Arbeit tun soll. Ganz bestimmt hat Erzbischof Müller einen Artikel für den "L'Osservatore Romano" geschrieben, in dem ganz gegen die Idee war, dass man vielleicht Kommunion, die Eucharistie den wiederverheirateten Geschiedenen geben könnte, wie es Papst Franziskus angedeutet hat. Aber man hat auch mit Interesse gesehen, dass sozusagen eine Persönlichkeit, die doch eigentlich dem Ratzinger-Trend angehörte wie Kardinal Marx von München, sofort eingesprungen ist und gesagt hat, ja, über das Problem muss man diskutieren, das kann man nicht vom Tisch wegnehmen.
Gessler: Man hört ja immer – und das nicht nur von sehr ängstlichen Katholiken, sondern auch von ziemlich nüchternen Katholiken, auf allen Ebenen eigentlich hier in Deutschland –, dass sie Angst haben, der Papst könnte irgendwie beseitigt werden oder auf Deutsch - ermordet – werden, durch Gegner entweder in der Kurie oder außerhalb. Können Sie solche Ängste verstehen?
Politi: Also ich muss sagen, wenige Stunden nach seiner Wahl gab es schon unter der Bevölkerung in Rom, die immer sehr instinktiv ist und spontan ist, schon Leute, die sagten, hoffen wir, es passiert ihm nichts wie mit Johannes Paul I., aber wir wissen ja ganz bestimmt, Johannes Paul I. ist nicht ermordet worden. Aber diese instinktive Reaktion zeigt doch, dass die Bevölkerung, dass viele Katholiken wissen, dass ein reformfreudiger Papst oder ein revolutionärer Papst, wie wir ihn ja nennen wollen, doch auf harte Widerstände stößt. Und ich weiß, in Buenos Aires gibt es diesen Witz unter den Priestern, sie sagen: Ja, Papst Franziskus ist froh, nicht in seinem Appartement zu leben, sondern in diesem Gasthaus des Vatikans in der Residenz Santa Marta, wo er mit allen anderen zusammen Mittag isst, denn so ist es schwieriger, ihn zu vergiften.
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