"Geht wählen, macht euch ein Bild"
Anlässlich der Wahlen in Berlin appelliert Erzbischof Heiner Koch an die Bürger, wählen zu gehen. Demokratie fange schon "im Stil, im Miteinander, im Respekt" füreinander an. Insofern sei der Diskussionsstil in vielen Internetforen eine "Demokratiegefährdung".
Anne Francoise Weber: Am morgigen Montag treffen die katholischen Bischöfe Deutschlands zu ihrer alljährlichen Herbstvollversammlung in Fulda zusammen. Eines der Themen, das dort besprochen wird, ist der Umgang mit Armut und Ausgrenzung.
Einer, der in seiner Diözese damit besonders viel zu tun hat, ist sicherlich Erzbischof Heiner Koch. Sein Erzbistum umfasst nicht nur Berlin, sondern auch große Teile Brandenburgs und Vorpommerns. Alles nicht wirklich reiche Gebiete, aber besonders deutlich dürfte die Armut und Ausgrenzung doch in der Großstadt Berlin sein, wo das soziale Netz oft nicht so gut hält wie auf dem Land.
Ich habe vor der Sendung mit Erzbischof Koch gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob die Arbeit gegen Armut und Ausgrenzung gerade im eher kirchenfernen und nur sehr wenig katholischen Berlin eine Kernaufgabe der katholischen Kirche ist.
Heiner Koch: Auf jeden Fall für mich. Und für uns. Es geht erstens um den Menschenwillen und im Mittelpunkt unseres Glaubens als Ziel wirklich all unserer Bemühungen steht der Mensch. Wenn das nicht so wäre, würden wir unseren christlichen Glauben verraten um der Botschaft Jesu willen, die jeden Menschen groß- und wertschätzt.
Sicherlich aber auch unsere Verantwortung für diese Gesellschaft, die wir als Christen tragen. Wir stehen zu dieser Gesellschaft in ihrer freiheitlich-demokratischen Ordnung und es ist uns ganz wichtig, dass diese freiheitlich-demokratische Ordnung eben auch in der Verantwortung von uns wahrgenommen wird im vorpolitischen Rahmen.
Armut im ganz weiten Sinn, wie ich es auch in Berlin erlebe, die Armut, materielle Armut, aber hier gibt es auch viele seelische Armut und Armut der Einsamkeit. Gerade da sind wir glaube ich eine wichtige Brücke für viele Menschen.
"Wir wollen für alle Menschen da sein"
Weber: Wie sind denn die Reaktionen jetzt gerade von kirchenfernen Menschen auf das Angebot? Also, Sie richten sich ja nicht nur an überzeugte Katholiken, aber kommen denn auch Menschen, die eigentlich sonst mit Kirche nichts zu tun haben? Oder wenn Sie auf solche Menschen zugehen, ist dann da so ein bisschen der Verdacht, oh, die wollen uns nur missionieren, mit denen wollen wir nichts zu tun haben, selbst wenn das Angebot eigentlich gut wäre?
Koch: Also, diese Angst, vereinnahmt zu werden, spüre ich hier weniger. Das habe ich in Sachsen früher deutlicher gespürt. Wahrscheinlich gibt es auch schon eine gewisse Tradition der Vorerfahrung, guten Vorerfahrung von unseren Häusern. Wir haben diese Woche … Unsere Hedwigshäuser haben Jubiläum gefeiert, die Krankenhäuser, was sind die beliebt, unsere Schulen, die wir bewusst auch nicht Getaufte aufnehmen und bewusst auch Menschen aus schwacher sozialer Schicht. Das ist uns ein großes Anliegen und alle wollen auch dahin.
Ich weiß, dass die Caritas einen sehr guten Ruf hat, und natürlich auch viele persönliche Erfahrungen mit guten Christen da sind. Nichtsdestoweniger, das ist uns immer wieder ein Ansporn, wir wollen für alle Menschen da sein. Das ist auch ein Stück Glaubwürdigkeit der Kirche und ist uns ein Herzensanliegen.
Weber: Wenn Sie jetzt nach Fulda fahren und Ihre Kollegen treffen, da kommen so manche aus reichen Bistümern und Sie selbst kommen ja auch aus dem Rheinland und haben da auch als Seelsorger und Weihbischof gearbeitet. Das ist doch eine ganz andere Voraussetzung, die die da haben. Also, erstens ist die katholische Kirche viel mehr in der Bevölkerung verwurzelt, es gibt eine ganz andere Infrastruktur und es gibt ganz andere Finanzen. Kann man sich da überhaupt austauschen, gucken die Sie nicht manchmal mit großen Augen an, wenn Sie von der Situation in Berlin erzählen?
Koch: Ja, sie schauen mich mit großen Augen oft an, aber meistens voller Respekt und voller Hochachtung vor diesen Einsatz, den wir hier fahren, mit so wenigen Mitteln so effektiv zu arbeiten, auch so klar und eindeutig.
"Die Gefahr ist da, dass man eine Bürokratie wird"
Im Rheinland ist eine katholische Einrichtung normal, wie man so schön sagt, verliert dann aber ihr Spezifikum schnell gegenüber anderen Trägern. Bei uns leuchtet etwas auf auch von dieser Grundbotschaft, ohne dass wir irgendjemanden vereinnahmen wollen, ja, gerade weil wir uns so allen zuwenden und das mit Herz tun, für jeden Menschen, ist das auch ein großes Zeichen. Ich finde eher Respekt und Hochachtung.
In manchen Dingen, etwa im Caritas-Bereich, bin ich auch froh, wenn sie uns unterstützen. Die Situation nähert sich auch in vielen Dingen an. Der selbstverständlich christliche Westen, das ist ja auch eine Erinnerungsutopie, möchte ich einmal sagen.
Weber: Der emeritierte Papst Benedikt sagt in seinem jüngsten Buch "Letzte Gespräche": "In Deutschland haben wir diesen etablierten und hoch bezahlten Katholizismus vielfach mit angestellten Katholiken, die dann der Kirche in einer Gewerkschaftsmentalität gegenübertreten." Ist es für so eine Kirche nicht besonders schwierig, sich um die Armen und Ausgegrenzten zu kümmern?
Koch: Also, die Gefahr ist da, dass man eine Bürokratie wird, die auch ganz gut ohne Menschen funktioniert. Allerdings, ich finde, dass das so im Großen und Ganzen auch nicht stimmt.
Zum Ersten mal, wir brauchen in dieser differenzierten Gesellschaft Strukturen, Personal, Mittel, um auch diesem gesellschaftlichen Niveau hier gerecht zu werden. Ich kann nicht einfach ein Krankenhaus aufmachen und da einen Herd hinstellen, sondern das hat gewisse rechtliche Voraussetzungen, strukturelle Voraussetzungen, überprüfbare Qualitätserweise und das ist gut so. Und wir haben hier Arbeitsverträge und wir können als Kirche zum Beispiel nicht sagen, wir laufen unterhalb dieser Arbeitsverträge und machen einfach Handschlagverträge, das wäre nicht gut und gerecht. Und sie leisten viel Gutes, sie leisten wirklich viel Gutes.
Nehmen Sie die Kircheninstitutionen aus Deutschland weg, ich möchte nicht wissen, wie die gesamtgesellschaftliche Lage da aussähe. Zum anderen, ganz wichtig: Viele sind ehrenamtlich, die sich engagieren, auch Hauptamtliche, die sich ehrenamtlich engagieren. Die Flüchtlingssituation hätten wir bei allen Schwierigkeiten nicht so gut jedoch gemeistert, wenn es nicht die vielen Ehrenamtlichen gäbe in den Gemeinden, die mit viel Herz und der Hilfe der Hauptamtlichen gearbeitet haben.
Weber: Ausgrenzung betrifft ja nicht nur arme Menschen, die Gefahr ist immer, Andersdenkende auszugrenzen, und das muss man ja eigentlich auch für kirchliche Gruppen sagen. Also, je fester die Identität einer Gruppe ist, je mehr man sich einig ist in seinem Glauben und in seiner Verortung, desto größer ist doch die Gefahr, dass man zu anderen sagt: Na ja, also, eigentlich gehörst du hier nicht so richtig zu uns. Wie kann sich Kirche, wie können sich Mitglieder eben christlicher Gruppen überhaupt so eine Offenheit bewahren?
Koch: Die christliche Identität heißt schlicht und einfach eine Identität für die Menschen, so wie Jesus Christus für alle Menschen war.
Weber: Nun stellt die Kirche ja auch Regeln auf oder man kann es auch Gebote nennen, die manchen Menschen es auch schwermachen, dazuzugehören. Also, wenn wir ganz konkret das Beispiel der geschiedenen Wiederverheirateten nehmen oder auch der konfessionsverschiedenen Ehepaare, die fühlen sich nicht gemeinsam zur Eucharistie eingeladen. Also, man will einerseits gegen Ausgrenzung kämpfen, gleichzeitig hat man Regeln, die durchaus dazu führen, dass da Menschen ausgegrenzt werden. Wie lässt sich mit diesem Widerspruch leben?
"Wir sind keine Kirche der oberen Zehntausend"
Koch: Da ist sicherlich viel Schuld auf unseren Schultern gelastet, das würde ich zweifelsohne aus der Geschichte heraus und aus der Gegenwart heraus sagen. Nicht ausgrenzen, heißt ja aber nicht, dass man nicht auch klare Überzeugungen hat. Auch klare Prinzipien, von denen man glaubt, dass sie den Menschen helfen zu leben.
Unsere Vorstellungen und Überlegungen, die ja in Christi Worten auch gründen, etwa von der Ehe, sind für uns lebensbedeutsam und, ich glaube, für die Menschen eine große Hilfe. Zur gleichen Zeit ist das Leben aber bunter und vielfältiger und es gibt Situationen, die mit Regeln und Normen nicht erfüllt werden. Für mich sind Lehren und Weisungen so was wie Straßenlaternen auf einem Weg, aber sie sind nicht der Weg. Ohne sie ist das Leben schwierig und es geht nicht und wir dürfen sie nicht aufgeben, nach dem Motto, ist doch egal, gleichgültig, Belanglosigkeit. Das würde ich absolut ablehnen.
Aber die Sorge, das Herz für den Einzelnen halte ich schon für ganz wichtig. Franziskus geht einen ganz geraden Weg, klare Überzeugung und ein großes Herz. Im Übrigen, ich kenne keinen Christen, der nicht selbst diese Linie der Barmherzigkeit für sich braucht. Ich kenne keinen, der alle Gebote erfüllen kann. Wir sind keine Kirche der oberen Zehntausend oder der Reinen oder der Perfekten.
Weber: Dennoch gibt es ja Stimmen, die ganz klar weiterhin sagen: Also, bei diesen Gruppen können wir die Eucharistie nicht öffnen. Und die Eucharistie ist ja doch was sehr Zentrales für das Zugehörigkeitsgefühl.
Koch: Also, zunächst einmal, hier geht es in erster Linie nicht um eine ethische Absetzung. Sie gehören zur Gemeinde, sie gehören zur Kirche voll und ganz, erstens.
Zweitens, das ist eher ein theologisches Problem, dass man sagt: Das Sakrament der Ehe ist ein Sakrament, auch mit Gott geschlossen, leben sie nicht, ist gebrochen. Und sie können nicht zur gleichen Zeit sakramental in der Eucharistie diese Gemeinschaft leben, da ist ein innerer Widerspruch. Soweit die Klarheit der Überzeugung.
Aber noch mal, auch Franziskus hat - und ich war ja selbst bei der Synode dabei - jetzt in "Amoris laetitia" gesagt, aber bitte haltet die Regeln fest, aber schaut auf den Einzelfall hin. Denn das weiß ich auch aus eigener Erfahrung und den täglichen Begegnungen mit Menschen: Das Leben ist nicht bis ins Letzte zu normieren und die Barmherzigkeit ist immer noch das höchste Gebot.
Weber: Viele katholische und evangelische Christen engagieren sich ja zurzeit sehr in der Flüchtlingsarbeit und damit kämpfen sie gegen Ausgrenzung. Ist es nicht dennoch noch ein weiter Weg von der Hilfe zum gleichberechtigten Miteinander?
Koch: Das ist ein langer Weg. Meine Eltern sind selbst aus Schlesien geflohen, ich bin dann im Rheinland geboren worden und ich habe schon auch als Kind gemerkt, wie lange sie gekämpft haben, dort auch wirklich angekommen zu sein. Es gab damals auch eine große Skepsis gegenüber den Heimatvertriebenen, wie sie ja sich nannten.
Weber: Und da gab es keine sprachlichen Barrieren.
"Integration wird auch uns verändern"
Koch: Keine sprachlichen, keine religiösen Barrieren, und sie wurden als Arbeitskräfte gesucht im Wiederaufbau Deutschlands, also, das war schon eine hervorragende Situation. Ich komme hier mit vielen Menschen zusammen mit Migrationshintergrund, nicht nur die als Flüchtlinge zu uns kommen, die hier sogar geboren sind. Aber die jetzt auch sagen, wir fühlen uns integriert, aber nicht so … wollen gar nicht so integriert sein, wie ihr das wollt, dass wir integriert sind.
Ich merke an dem Punkt, dass es eine ganz lange Entwicklung des Wachsens ist, über Generationen vielleicht sogar. Und dass es nicht nur mit einem Sprachkurs - was das Wichtigste zunächst ist - getan ist, sondern es geht auch um eine Angleichung der Mentalitäten, der Empfindungen. Auch um Respekt vor dem Anderssein und -bleiben des anderen. Integration derer, die zu uns kommen, wird auch uns verändern.
Weber: Sie sprechen von Respekt des Andersseins und Andersbleibens des anderen. Es gibt so ein paar politische Gruppierungen, bei denen man den Eindruck hat, diesen Respekt gibt es nicht. Also, Pegida und AfD haben da doch andere Ansichten. Es gibt auch Christen in diesen Gruppierungen. Was sagen Sie denen als Erzbischof? Oder was kann ein Pfarrer in seiner Gemeinde solchen Leuten sagen?
Koch: Für mich sind zwei Punkte wichtig: zu einen die Klarheit der Aussagen. Es gibt Aussagen, die können wir als Christen nicht mittragen. Dann dürfen wir auch keinen Zweifel um unser selbst willen, der Botschaft willen aufkommen lassen.
Das Zweite ist, ich muss das Gespräch mit jedem suchen, ich muss fragen: Warum? Ich muss verstehen, was da eigentlich dahintersteckt. Und ich merke bei den Gesprächen mit denen, die diesen Gruppierungen nahestehen, dass es ganz unterschiedliche Gründe sind. Es ist ja nicht eine homogene Gruppe. Und das hat verschiedene Gründe, die auch mich, uns anfragen, die die Gesellschaft anfragen, die auch die bestehenden Parteien anfragen.
Also, nur zu sagen mit dem moralischen Zeigefinger, ihr dürft nicht, ist zu wenig. Es verändert auch uns und muss uns nachdenklich machen. Ich hoffe aber im Übrigen, dass so eine Gemeinde auch ein Ort der Begegnung mit Andersdenkenden, mit Migranten, mit Andersempfindenden ist. Und bei jeder Begegnung merke ich, wie sich Fronten auflockern. Vielen fehlt es an herzhaften, herzlichen Begegnungen. Das ist vielleicht der größte Dienst, den wir leisten können.
Weber: Am Donnerstag haben Sie zusammen mit Ihrem evangelischen Kollegen Landesbischof Markus Dröge, Vertretern der Diakonie und des Gewerkschaftsbundes ein neues Bündnis vorgestellt, Bündnis für ein weltoffenes und tolerantes Berlin heißt es. Da geht es darum, ja, ein Signal des Willkommens zu setzen. Ist das wenige Tage vor der heute stattfindenden Wahl in Berlin zum Abgeordnetenhaus nicht schon fast eine Wahlempfehlung oder zumindest eine Nichtwahlempfehlung?
"Problematik unserer Demokratie fängt nicht am Wahltag an"
Koch: Wir haben auf jeden Fall zunächst, Bischof Dröge und ich, einen Aufruf gestartet und wir haben uns in den verschiedenen Veranstaltungen, in denen wir die Spitzenkandidaten alle zum Gespräch eingeladen haben, ja auch deutlich gemacht: Bitte geht wählen, macht euch ein Bild.
Die Wahlentscheidung ist natürlich die Entscheidung eines freien, mündigen Bürgers. Ich kann nicht sagen, ist demokratisch und dann kritisiere ich, wie du wählst, nach dem Motto, du hast nicht richtig gewählt. Das ist das eine. Das Zweite ist, mir geht es bei dem Ganzen tatsächlich um so eine freiheitlich-demokratische Ordnung. Die fängt nicht nur am Wahltag an und bei der Stimmabgabe, die Problematik unserer Demokratie beginnt im Vorfeld: Welche Inhalte vertreten wir, aber auch wie gehen wir miteinander um, wie gehen wir mit Menschen um, die zu uns kommen?
Es ist nicht nur die Frage des Was, sondern des Wie. Und da, glaube ich, ist die Demokratie tatsächlich gefährdet, insofern Demokratie ja schon im Stil, im Miteinander, im Respekt, in der Achtung anfängt und nicht bei der Wahlentscheidung nur. Wenn wir da nicht aufpassen, gerät uns - denken Sie nur an manche Blogs in den modernen Social Medien, was da für ein Stil herrscht -, da fängt meines Erachtens die Demokratiegefährdung an.
Deshalb sagen wir: Bitte, Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, sie muss immer wieder neu errungen werden, helft mit und engagiert euch mit und geht mit in der Bewegung derer, die für diese Demokratie stehen.
Weber: Am Freitag haben der Vorsitzende der Bischofskonferenz Kardinal Marx und der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017 vorgelegt. Darin heißt es: "Gemeinsam wollen wir den 500. Jahrestag der Reformation zum Anlass nehmen, uns auf die Anliegen der Reformatoren zu besinnen und ihren Ruf zu Umkehr und geistlicher Erneuerung zu hören." Können Sie das gerade älteren Gemeindemitgliedern vermitteln, die zum Teil doch wahrscheinlich mit großen Konfessionsstreitigkeiten aufgewachsen sind? Ist das wirklich, kann man heute gemeinsam diesen Ruf zur Umkehr der Reformatoren hören?
Koch: Also, zunächst einmal, der Ruf zur Umkehr ist natürlich für uns alle ein ständiger Ruf der Umkehr zum Glauben und zu Christus. Das ist halt das Zentrum. Da werden wir uns dann auch ökumenisch finden. Das Zweite ist, bei dem Ruf zur Umkehr ist es natürlich ein Ruf zur Umkehr, wo wir auch wirklich Fehler gemacht haben. Es ist sehr gut, dass wir das wahrnehmen.
Mir geht es gar nicht darum, den früheren Generationen vorzuhalten, was sie falsch gemacht haben, das kann ich nicht beurteilen. Andere Zeiten, andere Bedingungen, ich verstehe vieles auch nicht ganz. Aber das ist auch eine Frage unseres Umgangs miteinander.
Das Dritte ist, es gibt auch eine Schuld der Gleichgültigkeit, die sehe ich heute viel verbreiteter als den konkreten Fehler gegenüber den anderen Religionen, (die) sind heute glaube ich schon deutlich kleiner geworden. Aber es kann eine Gleichgültigkeit geben und auch das muss man als Schuld sehen, nach dem Motto, ach, ist uns egal, wie es ist, und wir kämpfen gar nicht um die Einheit, wir sorgen uns nicht um das Miteinander, wir gehen unsren eigenen Weg. Man kann sich auch mit seiner Spaltung abfinden, auch das wäre ein Stück Schuld.
Weber: Das Dokument ist auch eine Vorbereitung für einen zentralen Buß- und Versöhnungsgottesdienst im März in Hildesheim, und auch die Einladung, so eine ähnliche Zeremonie auf regionaler Ebene abzuhalten. Warum braucht man dann noch Buß- und Versöhnungsgottesdienste? Sind da wirklich noch so viele Erinnerungen zu heilen?
Koch: Erinnerungen heilen, sofern Schuld da war und es empfunden da war - und ich glaube, dass es das gab und gibt, nicht nur in längerer Vergangenheit -, durch Erinnern kann man aber auch heilen, durch Erinnerungen und im Erinnern kann man gemeinsam heilende Wege gehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass man nicht in Punkten auch sagt - und auch das wäre sonst Schuld -, wir sind überall billig einer Meinung und es gibt keine Unterschiede. Und auch das kann schuldhaft sein. Erinnern ist ja, eigene Geschichte vor sein inneres Auge stellen, so präsent werden lassen und daraus Kraft schöpfen für den weiteren Weg. Und das ist der zweite Aspekt: Erinnern führt immer in die Zukunft.
Die großen ökumenischen Anstrengungen stehen sicherlich noch vor uns und sind vor allen Dingen Anstrengungen der Frage - so sehe ich es -, wie wir zum Beispiel in dieser Stadt Berlin das Evangelium, die Begegnung mit Christus überhaupt Menschen nahebringen, die seit Jahrzehnten, seit Generationen in ihren Familien da überhaupt nicht mehr berührt worden sind. Und dass wir uns vielleicht zu sehr um uns kümmern und immer um uns selbst kreisen, ist ja auch ein Stück Schuld, an die wir uns vielleicht erinnern müssten.
Weber: Was erwarten Sie denn von diesen ganzen Reformationsfeierlichkeiten für Ihr Erzbistum? Glauben Sie, dass eben Kirche, christlicher Glaube dadurch wieder mehr ins Gespräch kommt, oder besteht doch die Gefahr, gerade hier im doch eher protestantisch geprägten Berlin, dass die katholische Kirche so als Negativfolie dann doch erscheint, dagegen musste sich Martin Luther und mussten sich andere wehren?
"Hier hat die Ökumene einen selbstverständlichen Stand"
Koch: Ich habe hier ein ganz anderes Ökumeneverständnis, Ökumeneerfahrung, als ich das etwa im Rheinland erlebt habe. Die Christen haben hier unter starkem Druck gelebt, als Außenseiter, als Angefragte, als in ihrer Lebensentfaltung Behinderte. Und sie waren Christen.
Hier hat die Ökumene einen selbstverständlichen Stand. Wir gehören zusammen und wir stehen gemeinsam auf. Wenn ich etwa in Vorpommern, Brandenburg das Sakrament der Firmung spende, singt oft ein evangelischer Chor und der evangelische Pfarrer oder die Pfarrerin sagen ein Grußwort oder wir sind auch in evangelischen Kirchen, weil unsere viel zu klein sind. Da ist ein Miteinander gewachsen. Da ist ein Miteinander gewachsen, das nicht geprägt ist von Abgrenzung, aber auch von einer Leichtigkeit, die Unterschiede wahrzunehmen, Respekt. Da sind wir unterschiedlicher Meinung, aber das ist keine Gefährdung und keine Anklage, sondern das ist ein Stück Bereicherung und wir suchen gemeinsam weiter. Das, finde ich, gibt dem Ganzen auch so eine positive Entwicklung.
Wenn diese positive Entwicklung weitergeht und mündet in die Frage, wie wir unseren gemeinsamen Auftrag, das Evangelium hier in dieser Stadt überhaupt wieder zur Sprache zu bringen, wie uns das gelingt, dann hat das Jahr seinen Sinn erfüllt.
Weber: Im Mai 2017 findet ja auch der Evangelische Kirchentag in Berlin statt, dann mit Abschlussgottesdienst in Wittenberg. Der Kirchentag ist schon seit Jahrzehnten ökumenisch, aber müsste er jetzt in diesem Reformationsgedenkenjahr noch ökumenischer sein?
Koch: Also, ich finde, dass er wie auch schon unser vergangener Katholikentag in Leipzig, den ich ja mitgestalten durfte, schon sehr ökumenisch ist. Und ich würde auch sagen, es ist gut, wenn auch die evangelische Kirche auf ihrer Sicht und ihrer Weise auch ihr Reformationsgedenken begeht. Das ist vor allen Dingen auch ein evangelischer Akzent. Aber ich habe in keinem Punkt den Eindruck, dass die evangelische Kirche uns nicht miteinbezieht. Wir sind hoffentlich auch ein guter Gastgeber, wir werden mittragen, ich werde an vielen Gottesdiensten, Veranstaltungen teilnehmen, die Zeiten der Abgrenzung sind sicherlich vorbei. Aber es ist auch ein Stück eigene Identität und Geschichte, die da ein wenig auch gefeiert wird. Auch kritisch gesehen wird.
Weber: Von evangelischer Seite sind Sie ja zum Abendmahl eingeladen. Können Sie sich das auch vorstellen? Umgekehrt ist die Einladung ja nicht ausgesprochen.
Koch: Ich glaube, dass schlicht und ergreifend an diesem Punkt wir Differenzen haben. Die Differenzen möchte ich auch nicht vertuschen und auch in der Öffentlichkeit nicht so tun, dass sie belanglos sind.
Wir haben ein anderes Verständnis der Präsenz Gottes und Christi in diesem Punkt, ich kenne keinen evangelischen Christen, der etwa, wie wir es tun, vor dem Allerheiligsten, vor dem Sakrament die Kniebeuge macht. Das würde er nicht machen, das würde er als innere Vergewaltigung, in Anführungsstrichen, verstehen. Und das wollen wir auch respektieren. Und ich finde nicht, dass man ein Zeichen setzen kann, ohne dass wir sagen können: Hier sind wir wirklich identisch. Auch das ist ein Stück Respekt und Hochachtung vor dem anderen: Ich weiß, dass ihr da anders empfindet, denkt, wahrnehmt, das respektiere ich, das achte ich, nicht als Bedrohung, sondern mit allem Respekt und lasse das auch so stehen. Auch das ist Ökumene.
Weber: Ganz herzlichen Dank, Herr Erzbischof Koch!
Koch: Danke!
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