Katholische Kirche

Plädoyer für eine andere Fehlerkultur

Ein Beichtstuhl in einer Kirche der von der Sonne gestreift wird
Ein bisschen sündigen, beichten, dann wieder sündigen: So macht die katholische Kirche Gläubige lenkbar, findet Gesine Palmer. © Getty Images / Silvia Otte
Gedanken von Gesine Palmer |
Hauptsache, die Sache kommt nicht heraus: Der kritische Umgang mit eigenen Fehlern gehört nicht zu den Stärken der katholischen Kirche. Das muss sich ändern, meint Gesine Palmer. Aber dazu müsse die Kirche auch einen neuen Umgang mit Sexualität finden.
Dass Menschen von der Geburt bis zum Tod ziemlich unvollkommene Wesen sind, die viel wollen und nicht ganz so viel können – das hat die Nachdenklichen unter ihnen von jeher beschäftigt.
Die gleichzeitige Ungleichzeitigkeit der Lebensphasen, in der immer die einen zu Erzieherinnen oder Pflegern der anderen werden, sowie die schwer kalkulierbare Kraft des Sexuellen sind dauerhaft unlösbare Probleme, mit denen keine der bisher bekannten menschlichen Ordnungen ein für alle Mal fertig werden konnte.

Sexualität lässt sich nicht abschaffen

Eine der großen Lösungsfantasien für das Problem des Sexuellen ist die der Keuschheit. Man schafft die Sexualität einfach ab, jedenfalls mal für die kulturelle Avantgarde und die Führungsriege einer symbolischen Ordnung.
Für die Mehrheit der gewöhnlichen Menschen hält man Institutionen und Glaubensweisen bereit, die sie lenkbar machen: Sie dürfen ein bisschen sündigen, danach beichten und weiter sündigen, solange sie nur an die Heiligkeit der Führung glauben.
Wer zur höheren Laufbahn aufsteigen wollte, musste jedoch zur Initiation lernen: Dein bisheriger Glaube an die Möglichkeit der Heiligkeit auf Erden war ein Kinderglaube. Deine Angst hemmt dich. Lerne: Wo alles verboten ist, ist alles erlaubt. Entscheidend ist, an welcher Stelle des Systems man zu stehen oder zu liegen kommt. Entscheidend ist, dass nichts nach außen dringt.

Es braucht echte moralische Integrität

Nach diesem Muster agieren nicht nur die Führungskader der katholischen Kirche. Es ist ein allgemeines Phänomen in mehr oder weniger paternalistischen Ordnungen. Dein Lehrer schlägt dich? So lernst du, dich der Übermacht zu fügen – und selbst eine mächtige Position anzustreben. Du hast es mit deiner Grobheit an Anvertrauten etwas übertrieben? Du bist ein verdienter Mann, wir werden dir keine Schwierigkeiten machen, nur sprich bitte nicht darüber, mäßige dich in Zukunft und sorge dafür, dass Stillschweigen gewahrt wird.
Wer dieses Verhalten nicht als eine gewöhnliche Kultur- oder Führungstechnik ansieht, sondern als Bigotterie tadelt, wie es manche katholische Geistliche jetzt intern und öffentlich tun – der hat offenbar einen anderen Anspruch: Er möchte ernsthaft und wirklich an die Möglichkeit der moralischen Integrität auch der höheren Geistlichkeit glauben.
Ich finde das bewundernswert – und hoffe, dass die vielen derartig gläubigen Bewegungen in der katholischen Kirche erfolgreich sind. Nicht, damit diese Kirche wird wie meine, die evangelische – die hat genügend Probleme im eigenen Haus, und außerdem ist es gut, wenn es mehrere Religionen und Konfessionen gibt.

Der Engel der Keuschheit darf nach Hause gehen

Dass die katholische Kirche ihren Weltkirchenstatus und ihre Fürsorge für christliche und nichtchristliche Menschen in aller Welt erhalten will – das ist schon in Ordnung. Aber für die Seelen der Gläubigen kann sie erst wieder glaubhaft sorgen, wenn sie zwei Engel mal nach Hause schickt: den Engel der Keuschheit, der das Problem und die Gabe der Sexualität nicht verantworten, sondern weghaben will. Und den Engel der Bestreitung, der die Führungsriege immun hält, dafür aber die Seelen der Geschädigten opfert.
Einstweilen verliert die Kirche nur in den westlich-modernen Kulturen an Mitgliedern – denn nur in ihnen hat es jedenfalls theoretisch jede Einzelseele zu so einer kulturellen Bedeutung gebracht hat, dass man ihr nicht mehr unter allen Umständen schweigsamen Gehorsam gegenüber der religiösen Autorität zumutet.
Wäre es aber nicht der ursprünglich christliche Auftrag einer Weltkirche, die Seelen aller Menschen so weit zu erhöhen und zur Reife zu bringen? Das wird ohne eine entwickelte Fehlerkultur nicht gehen.

Gesine Palmer, geboren 1960, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das „Büro für besondere Texte“ und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihre Themen sind Religion, Psychologie und Ethik.

Porträtaufnahme der Religionsphilosophin Gesine Palmer
© Gaëlle de Radiguès
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