Kathrin Schmidt: "Sommerschaums Ernte"
Gedichte
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 108 Seiten, 20 Euro
Gesang über die Vergänglichkeit
05:20 Minuten
Kathrin Schmidts Gedichtband "Sommerschaums Ernte" erzählt von Abschieden. Von Kindern, die das Haus verlassen, von Lieben, die enden, vom eigenen Altern. Doch ihr Sprachwitz bricht die Melancholie immer wieder auf.
In den Gedichten von Kathrin Schmidt wird Sprache dinglich greifbar. Da stehen still "die sätze / die wir uns eben noch zuflüsterten, im getreide ringsum". Und in einem Gedicht mit dem Titel "phrasenstrukturgrammatik" heißt es: "ich sah dich in meine begriffe radeln, mitten hinein / ins tohuwabohu der halbsätze, die um bedeutungen / kungelten, da war kein wort übrig für dich". Sogar beim "Kaffeesatz" ist nicht gewiss, ob er aus Kaffeepulver oder aus Wörtern zu denken wäre.
Kathrin Schmidts plastisches Verhältnis zur Sprache hat einen Grund. In ihrem autobiographischen Erfolgsroman "Du stirbst nicht", für den sie 2009 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, berichtete sie von den Folgen eines Schlaganfalls, als sie die Sprache mühsam Wort für Wort neu erlernen musste. Es dauerte lange, bis sie sich daran erinnern konnte, eine Schriftstellerin gewesen zu sein. Seither sind Wörter für sie Dinge geblieben, die sie gelegentlich fremd anblicken und die sich abtasten lassen wie die Tiere, Pflanzen und Steine, von denen in ihren Gedichten die Rede ist.
Lyrische Herbstlese
Doch genauso plastisch wie all die Wörter sind die Dinge selbst, die Körper und der eigene Leib, mit dessen Sinnen sich die Welt erfassen lässt. Dafür müssen die Wörter ein wenig verändert werden, damit sie passen. Da wird es der Dichterin "taubenflau" und manchmal hat sie sogar ein "kabeljaulen im ohr".
"Sommerschaums Ernte" ist eine lyrische Herbstlese. Die Dichterin, die da spricht, ist alt oder zumindest älter geworden. Die Kinder – fünf hat Kathrin Schmidt großgezogen – sind weg und lassen eine Leere im "greisenhaus" zurück, die schwer zu füllen ist. Vergänglichkeit, Alter, Herbst sind Themen dieser Ernte in teilweise recht spröden Versen, die Ziel und Ausrichtung suchen.
Auch eine Liebe scheint erloschen, liegt jedenfalls in der Vergangenheit zurück: "der herbst / würde ohne kürbise bleiben in diesem jahr / wie ich ohne dich". Der melancholische Ton klingt nach Ingeborg Bachmann, wenn es heißt: "ich stundete der zeit alle fristen" oder wie Goethe, wenn ein Romgedicht mit den Zeilen endet: "wer sonne ist, scheint und heißt / hitze willkommen im abschied." Aber auch Friederike Mayröcker wird "gemischt faschiert" weitergedichtet.
Bewahrende, schöpferische, lustvolle Kraft
Kathrin Schmidt schreibt Verse, die sich in Form und Rhythmus nicht einengen lassen. Da geht es gelegentlich allzu beliebig zu, wenn die Einfälle, die Wortwechsel, die Bildmomente die Führung übernehmen und das oder die "gedichtnis" zwar beschworen, aber nicht wirklich erreicht wird. Am eindrucksvollsten ist deshalb nicht ganz zufällig der den Band beschließende Zyklus aus fünfzehn Sonetten, die nicht nur streng gebaut sind, sondern sich auch ineinander verfugen. Der letzte Vers jedes Sonetts ist zugleich der erste des nächsten, bis dann das letzte, fünfzehnte, sich aus all diesen Schluss- und Anfangsversen zusammensetzt und damit jeden einzelnen Vers in einen neuen Bedeutungszusammenhang versetzt.
Es geht in diesem Zyklus um mumifizierte Eulen, die der Bauhauskünstler Georg Muche im Kamin eines Hauses in der Provence gefunden hat und die der Fotograf Werner Stuhler als memeto mori fotografierte. So mündet der Band, der mit dem Erwachsenwerden der Kinder, die sich einst "aus deinem körper stanzten", beginnt, in einen großen Gesang über die Vergänglichkeit, der Kathrin Schmidt die Sprache als bewahrende, schöpferische, lustvolle Kraft entgegenstellt: "Drin hockt vorm Ofen stumm ein Wortentfacher / Es ist kein Schnitter ist ein Aschenmacher. / In seinem Auge sammelt sich Begehrnis."