Katja Grach: "MILF-Mädchenrechnung"

Mütter unter Attraktivitätsdruck

Eine Frau küsst ihr Baby auf die Wange.
"Früher war es so, alles Schlampen außer Mutti, und jetzt ist es, alles Schlampen, auch Mutti", meint Katja Grach. © picture alliance/imageBROKER
Katja Grach im Gespräch mit Christian Rabhansl |
MILF, das steht für "Mom I’d like to fuck". Die vier Buchstaben machten in der Pornowelt Karriere und seien heute im Mainstream angekommen, glaubt die Buchautorin Katja Grach. Sie hat das heterosexuelle Konzept vom Sex nach der Schwangerschaft feministisch gegen den Strich gebürstet.
Christian Rabhansl: Es kann wirklich nicht einfach sein, nach der Schwangerschaft gleich wieder den Bauch wegtrainieren, schön schlank werden, und dabei trotz Babybrei auf der Bluse und Kotzflecken auf der Schulter und Ringen unter den Augen ganz glamourös und einfach fantastisch aussehen. Zwar lebt manch ein Popstar das vor, dass das irgendwie geht, sexy trotz Kinderstress. Aber wie realistisch ist das? Und ist das überhaupt erstrebenswert. Viele Frauen und Mütter scheinen genau das zu denken, zumindest wenn ich der Geschlechterforscherin und Sexualpädagogin Katja Grach glauben darf. Die hat ein Buch geschrieben über die "Milf-Mädchenrechnung: Wie sich Frauen heute zwischen Fuckability-Zwang und Kinderstress aufreiben", und um das genauer zu verstehen, habe ich Katja Grach in die "Lesart" eingeladen. Guten Tag, Frau Grach!
Katja Grach: Hallo!
Rabhansl: Ich habe ziemlich viele Fragen, Frau Grach. Aber die erste Frage, die kommt mit einem ungläubigen Staunen daher, denn Sie schreiben über die Milf, von der ich bislang vor allem wusste, dass man sie besser nicht im Büro googlen sollte, weil dieses Suchwort Milf unweigerlich auf Pornoseiten führt. Denn Milf, das steht für eine "Mom I’d like to fuck", also eine Mutter, die man vögeln möchte. Das ist seit Jahren ein Riesending im Pornobusiness, und was jetzt mein ungläubiges Staunen betrifft: Heutige Mütter, heutige Frauen, schreiben Sie, nehmen sich allen Ernstes einen Pornofetisch als Vorbild für ihr ganz reales Leben?
Grach: Na ja, Fetisch würde ich das nicht bezeichnen als Sexualpädagogin.
Rabhansl: Okay, falscher Begriff.
Grach: Da gibt es gewisse Unterschiede. Das ist so einer der meistgesuchtesten Begriffe, aber dem Pornohype kam ja "American Pie" 1999 zuvor –
Rabhansl: Diese Teeny-Komödie.
Grach: – und hat diesen Begriff geprägt. Ja, genau. Das war dann Stiflers Mom. Die Pornoindustrie hat das aufgegriffen, und mittlerweile ist es aber so, dass man in der Popkultur merkt, dass dieser Begriff auch dort immer wieder landet, weil ja auch sonst viele Begriffe aus dem Pornogenre immer mehr Mainstream werden. Und Mütter spüren einfach grundsätzlich diesen Druck nach wie vor, dieselbe Attraktivität an den Tag zu legen wie vor der Schwangerschaft.

"Für das Publikum vögelnswert"

Rabhansl: Und da geht es ja eben nicht nur darum, dass die Milf versucht, irgendwie sich ihren Körper nach der Geburt zurückholen zu wollen, es geht auch nicht um bloße Schönheit, sondern, Sie schreiben das sehr klar, um Fuckability, also darum - auf Derbdeutsch gesagt - fickbar zu sein. Was stellen Frauen alles an, um eine echte Milf zu sein?
Grach: Grundsätzlich ist das auch wieder so ein Begriff, der nicht von den Frauen kommt, sondern eigentlich aus Hollywood. Damit wird der Wert von Schauspielerinnen bemessen, besetzt zu werden für eine Rolle, also ob sie für das Publikum vögelnswert sind. Das, was dazugehört, ist eh das klassische, einerseits, jede Frau macht irgendwann eine Diät oder die zweite, dritte, vierte, fünfte. Zweitens, der Fitnesshype geht auch nicht spurlos vorüber.
Momentan ist extrem in, einen großen knackigen Hintern zu haben. Deswegen werden überall Kniebeugen gemacht, die heißen jetzt Squats, das klingt cooler, und es ist einfach der Beziehungsmarkt ein anderer wie vor 40, 50 Jahren. Man weiß nicht, wie lange hält eine Ehe, die Scheidungsraten sind hoch, es wären polyamouröse Beziehungsformen diskutiert. Da muss man schon mal viel mehr schauen, wie sexuell attraktiv man für den Partner oder die Partnerin bleibt.
Rabhansl: Ich muss sagen, in Ihrem Buch liest sich das alles noch ein bisschen drastischer. Da schreiben Sie von dem aus den USA kommenden Trend, dass die Frauen sich den G-Punkt aufspritzen lassen, dass sie sich die Schamlippen kürzen lassen, damit sie ästhetisch aussehen wie im Porno. Ich muss sagen, in anderen Zusammenhängen reden wir da eigentlich von Genitalverstümmelung, oder?
Grach: Ja, absolut, und es gibt ja diesen Mythos, dass man nach einer Schwangerschaft ausgeleiert wäre. Das ist totaler Blödsinn, aber genau mit dieser Unsicherheit, mit diesem Mythos oder einem zusätzlichen Stich bei der Dammnaht wird dann geworben, quasi alles für heterosexuellen Sex wieder richtig zuzurichten, sagen wir mal so. Aber es ist nicht notwendig, es leiert auch niemand aus. Und alle Formen von Schamlippen oder Labien sind normal. Sie sind einfach vielfältig, genauso wie wir verschiedene Ohren haben.

"Alles Schlampen, auch Mutti"

Rabhansl: Ich habe jetzt mit Ihnen als Sexualpädagogin über diese intimen Details gesprochen. Sie haben aber auch vor allem ein sehr, sehr feministisches Buch geschrieben. Ich versuche es jetzt mal umzudrehen: Früher war das völlig anders, da war die Mutter die Heilige, nicht die Hure. Und Sie schreiben, im Grunde war die Mutter früher eine asexuelle Figur. So gesehen, ist das nicht ein emanzipatorischer Akt der Befreiung, der Selbstbestimmung, wenn Mütter heute sagen, ich bin weiterhin sexuell attraktiv und aktiv?
Grach: Ja, das klingt so auf dem ersten Blick, aber gleichzeitig müssen sie jetzt beides sein. Also sie sollen ja noch immer die perfekten Mütter sein oder mehr als je zuvor alles richtig machen, diese ganzen Kolumnen vom Jesper Juul lesen und ihre Kinder nicht zu Tyrannen erziehen, und gleichzeitig müssen sie auch noch sexuell attraktiv sein. Also, "müssen" muss gar niemand was, aber dieses Ideal bezieht sich jetzt so drauf, dass einfach Heilige und Hure vermischt werden. Früher war es so, alles Schlampen außer Mutti, und jetzt ist es, alles Schlampen, auch Mutti.
Rabhansl: Wenn ich Ihr Buch richtig verstehe, ist das Problem vor allem auch die Blickrichtung. Dass diese modernen Frauen, die versuchen, eine Milf zu sein, das eigentlich nicht für sich selber tun, sondern für das Auge des männlichen Betrachters. Ist das eigentlich eine Fortschreibung alter Machtverhältnisse perfiderweise unter dem Etikett der Befreiung?
Grach: Genau. Ich kann nur mit ja antworten.
Rabhansl: Wir reden bislang über Mütter, wenn ich Ihr Buch aber richtig verstehe, dann treffen diese Entwicklungen eben nicht nur Mütter, sondern im Grunde alle Frauen, und zwar von der Teenagerin bis zur Seniorin. Welche Folgen hat das, wenn weibliches Leben im Grunde von Beginn bis zum Ende für den Männerblick aufbereitet wird?
Grach: Als Sexualpädagogin kriege ich immer wieder diese Anfragen von Eltern: Was soll ich tun mit meiner Teenagertochter? Es ist so problematisch, in Social Media postet sie sich die ganze Zeit mit ihren Selfies und es geht nur mehr um äußere Attraktivität. Ich frage dann meistens, na ja, was ist das erste Kompliment, das Ihnen einfällt, wenn Sie einem kleinen Mädchen begegnen? Und das erste Kompliment, das einem auf den Lippen liegt, ist 'Mein Gott, hast du ein schönes Kleidchen an'. Es wird ständig von klein auf immer auf das Äußere Wert gelegt und wie süß und wie hübsch und so weiter. Warum sollten dann erwachsene Frauen plötzlich anfangen, aus was anderem ihren Selbstwert zu beziehen? Das ist ein bisschen schwierig, und das hinterlässt halt einfach eine gewisse Leere, weil man ständig beschäftigt ist mit der Arbeit am Körper. Das ist ziemlich traurig eigentlich.

"Männer sind sowieso schon Dilfs"

Rabhansl: Drehen wir es mal um: Das Ganze ist ja ein Problem des Geschlechterverhältnisses. Gibt es eigentlich auch Männer, die sich zum Dilf machen?
Grach: Da das gesellschaftlich anders bewertet wird, wenn Männer mit Babys irgendwas machen, sei es, sie wickeln, sei es, sie gehen mit ihnen in den Park oder füttern sie, das wird über den grünen Klee gelobt quasi, sie sind sowieso schon Dilfs. Auch auf Tinder und anderen Dating-Plattformen ist es Usus, dass man sich als Mann noch mal mit einem Hund oder einem Kind fotografieren lässt, um zu zeigen, ich kann das.
Rabhansl: Die Milf, also die "Mom I’d like to fuck", ist in den letzten Jahren vom Pornoobjekt zum realen Rollenvorbild realer Frauen und Mütter geworden, wobei, Frau Grach, natürlich nicht jede Frau und Mutter zur Milf werden will, aber auch gar nicht jede zur Milf werden kann. Denn die Idee der Milf, die lebt ja vom Tabubruch. Welchen sozialen Status muss eine Mutter mitbringen, damit sie überhaupt zur Milf werden könnte?
Grach: Das ist eine Frage, die ich mir während dem Schreiben gestellt habe. Und ich bin drauf gekommen, das hat sehr viel mit dem sozioökonomischen Status zu tun. Also man imaginiert eine Milf nicht als eine Frau, die mit drei Kindern in der Notschlafstelle übernachtet. Man imaginiert sie nicht mit Kopftuch. Das hat was von weißer Mittelschichtsfrau. Das ist auch so, wie sie in "American Pie" vorkommt, und auch, wie die Milf-Darstellerinnen im Porno inszeniert werden. Also immer schöne Wohnung, gut betucht und auf keinen Fall eine Teenagermutter. Also die fällt auch nicht drunter.
Rabhansl: Positiv formuliert, geht es dann Frauen so, die von vornherein keine althergebrachten Rollen leben, dass die gar nicht Gefahr laufen, in die Milf-Falle zu tappen? Lesbische Mütter zum Beispiel?
Grach: Lesbische Frauen sind aus dieser Rechnung ohnehin ausgenommen, weil das ein sehr heterosexuelles Konzept ist und lesbische Sexualität nur insofern vorkommt, als dass sie ein weiteres Must-have ist, das man halt irgendwie auch einmal abgehakt haben sollte auf seinem sexuellen Lebenslauf natürlich als Milf. Man muss ja offen sein quasi.
Rabhansl: Es wird sehr deutlich, dass Sie die Milf nicht wirklich für ein gutes Vorbild halten, und in Ihrem Buch da durchforsten Sie die Kulturgeschichte und auch die Popgeschichte. Welche besseren Vorbilder haben Sie denn gefunden für Frauen, die zwar rauswollen aus der miefigen Vergangenheit, aber eben deswegen noch lange nicht zur Milf werden wollen?
Grach: Vorbilder in dem Sinn habe ich nicht, dass ich jetzt einzelne Personen hervorheben würde.
Rabhansl: Oder Figuren.
Grach: Figuren, ja, auch nicht. Im Endeffekt, das, was es braucht, ist ein stärkerer Blick auf uns selbst, wie vielfältig wir sind und das zu akzeptieren, und viel mehr Solidarität untereinander. Es ist immer wieder ein großes Thema, Frauensolidarität, und dass sich Mütter auch stützen gegenseitig. Ich glaube, das ist was, was gesellschaftlich sehr stark verloren gegangen ist. Deswegen beschäftigen wir uns dann immer mit unserer Selbstoptimierung mehr oder weniger. Das ist alles so individualisiert und vergessen, dass es eine Gemeinschaft gibt, wo man gut zusammen helfen kann und wo diese ganzen Bewertungen überhaupt nicht wichtig sind.

"An manchen Tagen ist mir das wurscht"

Rabhansl: Sie selbst sind 1983 geboren, Sie sind selbst Mutter, also auch Sie sind nicht gefeit vor diesem Fuckability-Zwang, wie Sie es nennen, vor diesem Druck, zur Milf zu werden. Wie gehen Sie persönlich im Alltag damit um?
Grach: Ich bin nicht davor gefeit, mich falsch zu fühlen in meinem Körper, wenn ich versuche, Kleidung zu finden, die mir passt, und ich habe jetzt keine ungewöhnliche Figur. Aber es wird einfach für ein Ideal geschneidert, also Konfektionsgrößen sind halt nicht für jede Person passend. Und an manchen Tagen ist mir das wurscht, und an anderen Tagen ist es mir überhaupt nicht wurscht, und ich denke mir, boah, es passt nix von vorne bis hinten. Gleichzeitig gibt es Tage, wo man denkt 'Es zahlt sich überhaupt nicht aus, Zeit zu investieren, meine Beine zu enthaaren, mir ist es egal', und an anderen denke ich immer 'Na, so gehe ich nicht aus dem Haus'.
Also das betrifft mich genauso. Das würde mich aber, glaube ich, auch betreffen, wenn ich keine Mutter wäre. Aber als ich Single war zwischendurch als Mutter, bin ich sehr oft mit der Zuschreibung Milf konfrontiert worden. Also sobald ich gesagt habe, ich habe ein Kind - 'oh, ja, Milf'. Steigert das jetzt meinen sexuellen Wert, wenn ich ein Kind habe? Also, ich weiß nicht, das ist schräg.
Rabhansl: Wir sprechen jetzt die ganze Zeit darüber, was Frauen tun können. Was können denn Männer machen, um die Milf zu überwinden?
Grach: Ich glaube gar nicht, dass die so viel machen müssen, außer grundsätzlich, wenn sie auf Frauen stehen, denen zu kommunizieren, dass sie genauso in Ordnung sind wie sie sind, wenn sie das so wahrnehmen können. Das ist natürlich die andere Frage, aber grundsätzlich kann man eh nichts anderes machen, weil viel von dem Druck spielt sich natürlich dann im Kopf von Frauen ab, die das dann ja für sich alles durchexerzieren, aber man kann nur Gegenbeispiele bringen und zeigen, dass man genau diesen facettenreichen Körper, sage ich es einmal, so anziehend findet wie er ist.
Rabhansl: Katja Grach hat das Buch geschrieben "Milf-Mädchenrechnung: Wie Frauen sich heute zwischen Fuckability-Zwang und Kinderstress aufreiben", 256 Seiten, die kosten 14,99 Euro und sind bei Schwarzkopf und Schwarzkopf erschienen. Danke schön, Frau Grach!
Grach: Danke sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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