Was Füße und ihre Besitzer einer Autorin erzählen
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Bei der Pediküre erzählen die Leute alles, sagt die Schriftstellerin Katja Oskamp. In einem krisenhaften Moment begann sie als Fußpflegerin in Marzahn zu arbeiten - und fand zwischen 19.000 fremden Zehen genug Geschichten für ein neues Buch.
Joachim Scholl: Die Schriftstellerin Katja Oskamp ist 1970 in Leipzig geboren, aber schon lange jetzt eine Berlinerin. Es gibt Romane und Erzählungen von ihr, sie hat mehrere Literaturpreise auch dafür bekommen. Heute kommt das neueste Buch von Katja Oskamp in die Läden, es heißt "Marzahn, mon amour – Geschichten einer Fußpflegerin". Wir lassen gleich mal die Katze aus dem Sack, Frau Oskamp, diese Geschichten einer Fußpflegerin, die sind nämlich so was von authentisch, denn seit einigen Jahren sind Sie tatsächlich selber eine diplomiert geprüfte Fußpflegerin. Zweimal in der Woche arbeiten Sie in einem Salon in Berlin-Marzahn. Wie kam es dazu?
Oskamp: Ja, diplomiert würde ich jetzt erst mal nicht sagen, das ist ja keine vollständige Berufsausbildung, sondern das war ein Kurs von acht Wochen, den man also einigermaßen sicher doch auch schafft.
Scholl: Aber da war eine Prüfung und alles …
Oskamp: Es war eine Prüfung, das stimmt. Das kam so: Ich hatte eine Novelle geschrieben, das wäre dann mein viertes Buch gewesen, und diese Novelle ließ sich aber nicht verkaufen. Und da habe ich also gewartet und immer nur Absagen bekommen und von immer mehr Verlagen gehört, dass sie die zwar sehr schön finden, aber doch irgendwie nicht drucken wollen. Und das hat mich natürlich beschäftigt und auch gekränkt, weil ich so etwas noch gar nicht kannte in meiner bisherigen Schreiblaufbahn.
Und irgendwann dachte ich, ich kann hier nicht nur grübeln und sitzen, ich muss etwas unternehmen. Und ich wollte aber etwas machen, was nichts mit dem Schreiben zu tun hat, also völlig raus aus dieser Welt und aus diesem Betrieb und aus dieser kleinen Blase, die ja der Literaturbetrieb auch ist. Und dann bin ich zu einer Freundin gegangen, die gerade ein Kosmetikstudio in Marzahn eröffnet hatte, um mir was Gutes zu tun, also ich war deren Kundin.
Und dann habe ich ihr das erzählt, wie meine Lage ist und dass ich nicht weiß, was ich machen soll. Und die sagte ganz praktisch, dann fang doch bei mir als Fußpflegerin an. Dann hat sie geguckt, wann der nächste Kurs beginnt in der Schule, wo sie auch war. Und dann habe ich überhaupt nicht mehr nachgedacht, sondern bin da einfach hingegangen.
Das Schwitzen beim ersten Fuß
Scholl: Aber Sie beschreiben im Buch auch dann die Ausbildung. Ich meine, das war ja wirklich plötzlich eine ganz andere Welt für Sie, Podologie, wie es im Lateinischen heißt, die Lehre vom Fuß.
Oskamp: Ja, aber da müssen wir jetzt ganz doll unterscheiden, weil die Fußpfleger und die Podologen, das sind zwei verschiedene Paar Schuhe.
Scholl: Die Podologen sind richtig die Ärzte.
Oskamp: Ja, die dürfen auch mehr und so.
Scholl: Aber Sie haben diese Ausbildung gemacht, Sie haben gepaukt, Sie haben gelernt. Aber wie war denn da so der erste Arbeitstag, da sind Sie doch bestimmt klamm hingefahren, der erste Fuß.
Oskamp: Ja, für meine Nerven war das alles nicht so einfach, weil es ist ja wirklich sehr artfremd, und ich habe geschwitzt und habe gelitten und war fix und alle und habe gedacht, oh Gott, das stehe ich keinen zweiten Tag durch. Aber meine Chefin war sehr geduldig mit mir und hat mir auch Kunden gegeben, die geduldig sind und Humor haben, und dann haben wir das irgendwie so über ein paar Wochen hingekriegt, dass ich das dann richtig konnte, weil man lernt das richtig erst im Tun, diese Arbeit.
Scholl: Im Buch erzählen Sie dann von Kunden und Kundinnen, natürlich fiktionalisiert, da gibt es einen Herrn Paulke oder die Frau Guhse oder den Herrn Pietsch. Die Lebensgeschichten aber, die Sie erzählen, die damit verbunden sind, die haben Sie von den Kundinnen und Kunden selbst bekommen? Oder sagt man Patienten?
Oskamp: Kunden.
Bei der Fußpflege "kommt alles raus"
Scholl: Bei der Fußpflege ist es wie beim Friseur, da kommt nach und nach alles raus?
Oskamp: Ja. Da kommt alles raus. Und das sind wirklich authentische Geschichten, von den Leuten, die dort wohnen und die eben regelmäßig in dieses Studio kommen. Und diese Geschichten haben sie mir natürlich nicht in einer Sitzung erzählt, sondern durch dieses regelmäßige Wiedersehen, alle sechs Wochen Zehennägel schneiden, entsteht wirklich eine Bindung und eine Beziehung zu diesen Leuten. Und auf diese Weise bin ich also in diese Biographien eingestiegen, und die haben mich zum Teil so gerührt und auch so begeistert und amüsiert, dass ich das irgendwann aufgeschrieben habe.
Scholl: Es sind rührende, oft traurige Geschichten, die mit Alter und Krankheit zu tun haben, auch mit vielen sozialen Verwerfungen zwischen Ost und West. Eine Kundin zum Beispiel, die Gerlinde Bonnkat, die schildern Sie mit besonderer Wärme. Vielleicht erzählen Sie uns als Beispiel mal kurz von dieser Frau, was hat Sie bei deren Schicksal so sehr bewegt?
Oskamp: Die kommt ja sogar alle zwei Wochen zu mir, weil die hat wirklich Problemfüße. Und das ist aber etwas, diese Füße sind ja nicht einfach so Problemfüße, sondern die Frau ist 80 Jahre alt und hat eben ein sehr bewegtes Leben hinter sich und hat eine Flucht als Kind schon mal überstanden, wo die Schuhe eben auch katastrophal waren – und da fing das Problem für die Füße schon an. Sie ist dann irgendwann nach Deutschland gekommen und hat also dort versucht mit ihrer Mutter Fuß zu fassen und ein Leben aufzubauen.
Sie ist in großer Armut aufgewachsen, hat verschiedene Berufe erlernt, bis sie dann endlich Krankenschwester werden konnte, was sie immer wollte. Und sie hat auch an verschiedenen Krankenhäusern gearbeitet und, was vielleicht auch nicht so typisch für Marzahn ist und verbunden wird mit dem Ort, sie ist sehr religiös und geht jeden Sonntag in die Kirche. Und das ist eigentlich das, was sie ihr Leben lang gehalten hat. Und wie diese Frau dann bei mir auf dem Stuhl sitzt und davon erzählt, das ist wirklich faszinierend, ich höre ihr auch wirklich immer noch gerne zu.
"Jeder denkt, er hat die schlimmsten Füße dieser Welt"
Scholl: Stichwort Problemfüße, Frau Oskamp: Ich habe mir natürlich beim Lesen dieses Buches sofort die eigenen Haxen angeschaut. Und na ja, definitiv würde ich, wenn ich vor Ihnen die Socken abstreife, es machen wie alle Ihre Kundinnen und Kunden, sich erst mal entschuldigen. Das ist so ein Reflex, ja?
Oskamp: Ja, das ist wirklich ein Phänomen, dass jeder sich entschuldigt, weil jeder denkt, er hat die schlimmsten Füße dieser Welt. Das ist sehr lustig.
Scholl: Aber Sie bekommen auch Füße zu Gesicht, die sehen manchmal nur fürchterlich aus, das beschreiben Sie auch, und da habe ich mich zwischendurch echt gekrault, wenn Sie da von den Nagelwucherungen und allen möglichen Verformungen schreiben und dann die Hornhautfräse ansetzen, das ist ja echt schon ein ganz schön harter Beruf oder?
Oskamp: Ich habe mich ja schon zurückgehalten beim Schreiben, dass ich das nicht so drastisch schildere, und wenn Sie das aber schon als…
Scholl: Ach, das ist noch schlimmer?
Oskamp: Eigentlich manchmal ja. Aber ich muss sagen, das ist natürlich insofern die Ausnahme, als dass man ja Stammkundschaft hat. Und vielleicht ist die erste Begegnung schwierig, und die Füße müssen erst mal in Form gebracht werden, aber dann, weil ich da regelmäßig draufgucke, sind die natürlich alle in einem akzeptablen Zustand.
Scholl: Wann hatten Sie denn die Idee, das Gefühl, darüber will ich auch schreiben, darüber muss ich schreiben? Oder war das von Anfang an so der geheime Plan?
Oskamp: Im Nachhinein sieht das nach Plan aus, aber ich hatte wirklich keinen, ich wollte erst mal nur tätig sein – und wenn es geht mit meinen Händen. Und ich wollte eine Arbeit machen, wo ich am Abend weiß, wovon ich kaputt bin, das ist auch eine schöne Sache. Irgendwann habe ich dann eben Notizen gemacht, weil ich damit gar nicht gerechnet hatte, was das für tolle Geschichten sind, die die Leute erzählen und auch wie die auf mich wirken und wie die zum Teil zum Lachen sind.
"Marzahn ist ein funktionierender, aufgeräumter Stadtteil"
Und dann habe ich eine so eine Geschichte mal fertiggemacht, und dann kam eine Redakteurin von "Zeit Online", die mich nicht vergessen hatte als Autorin, und hat mich gefragt, ob ich für diesen Blog "Freitext" vielleicht etwas hätte. Und dann habe ich ihr die geschickt, und dann stand die erste Geschichte im Internet, und so hat sich das ganz langsam aufgebaut.
Scholl: Dieser Ort, dieser Berliner Bezirk, der ist natürlich mittlerweile berühmt geworden durch eine gewisse "Cindy aus Marzahn". Und diese toughe Lady im pinkfarbenen Joggingoutfit, die hat natürlich auch stark so ein bestimmtes Bild geprägt, so ein bisschen prollig, sozial prekär, Berliner Schnauze, total so inmitten von Plattenbau und Ex-DDR-Milieu. Sie, Frau Oskamp, Sie brechen wirklich eine schöne Lanze für diese Welt, in der ja fast 270.000 Menschen leben, das muss man sich immer mal klarmachen, dass das eine Großstadt für sich ist. Wie nehmen Sie denn dieses Marzahn selber wahr?
Oskamp: Für mich ist Marzahn eigentlich ein Ort, an den ich jede Woche von Neuem sehr gerne fahre. Ich bin da gerne, ich steige da gerne aus der Straßenbahn, ich gehe gern in dieses Studio, ich gehe da auch gerne zum Bäcker und zur Apotheke und einkaufen. Es ist eben leider nicht so wie das Bild, das immer noch in den Köpfen herumgeistert von Marzahn, das ist ein funktionierender, freundlicher, aufgeräumter Stadtteil in meinen Augen.
Scholl: 20 Minuten fahren Sie an Arbeitstagen vom Berliner Westen nach Marzahn. Und schon diese Fahrt, schreiben Sie, wärmt Ihr Herz.
Oskamp: Ja, so ist das, ich kann nichts dafür, ich habe mir das auch nicht vorgenommen, es gefällt mir einfach.
Reaktion aus der Literaturwelt: "am Anfang sehr verhalten"
Scholl: Martin Walser hat mal gesagt, schon in den 1960er-Jahren, als es darum ging, dass Schriftsteller ja sich mehr in der Arbeitswelt engagieren sollten, Schriftsteller sollen Berufe haben. So wie Sie, Frau Oskamp, haben das nicht so viele beherzigt. An einer Stelle, da schreiben Sie auch, dass Schriftstellerkolleginnen so von Ihrem Job gehört hätten und als Resonanz darauf dann ihre Töchter zu Ihnen geschickt hätten. War das die einzige Reaktion?
Oskamp: Nein, das ist ja dann in der Folge geschehen. Die Reaktion aus der Literaturwelt wie auch überhaupt allgemein, war am Anfang wirklich sehr verhalten. Und das ging eben darum, warum denn ausgerechnet, igitt, gleich die Füße von fremden Leuten. Da musste ich eine Weile Geduld haben, bis sich das sozusagen etabliert hat und bis das akzeptiert wurde. Ich gebe ja auch zu, dass es eine absurde Mischung ist, aber diese Schriftstellerinnen, die mich dann besuchen – oder auch ihre Töchter –, die haben dann gesehen, dass das alles gar nicht so schlimm ist.
Scholl: Wie ist das denn eigentlich mit Ihren Kunden und Kundinnen, wissen die, dass da eine Schriftstellerin ihre Füße pflegt, massiert und cremt?
Oskamp: Die wissen das zum Teil, das kommt ganz auf die Kunden an. Ich habe da keinen Plan, wen das interessiert und wer fragt, dem erzähle ich das, also, ich mache kein Geheimnis daraus, aber ich hänge es auch nicht an die große Glocke. Und es ist so, die haben eine Stunde Zeit, ich auch für sie. Ich habe weiße Sachen an, dann geht es zum Fußbad, das ist sozusagen ein straffes Programm. Ich sitze da als Fußpflegerin vor ihnen, insofern ist es auch ein bisschen egal, was ich ansonsten noch behaupte, wer ich alles bin. Ich muss ja einfach meine Arbeit machen.
Scholl: Aber wie ist das denn jetzt, wenn Frau Guhse oder Herr Pietsch dann dieses Buch lesen und dann zwar ihre Namen nicht wiedererkennen, aber ihre Geschichten vielleicht? Kommen die dann nicht gelaufen und sagen, also Frau Oskamp, so war das aber nicht?
Oskamp: Das weiß ich nicht, das ist ja heute erst erschienen, insofern warten wir mal gespannt, was passiert.
Gelassener gegenüber dem Schreiben
Scholl: Vorhin haben Sie schon erzählt, wie Sie zu diesem Beruf gekommen sind, von einer Art Schriftsteller-Midlife-Crisis, es ging nicht mehr voran mit der literarischen Karriere. Zuvor haben Sie aber auch schon mehrere Bücher veröffentlicht, bekamen auch Preise dafür. Wie sind Sie eigentlich Schriftstellerin geworden, wie kamen Sie zum Schreiben?
Oskamp: Ich war ja ganz ursprünglich am Theater, ich war Dramaturgin in meiner Jugend. Und dort war es auch schon so, dass mir eigentlich das Schreiben immer sehr geholfen hat und Spaß gemacht hat. Ich habe damals Probennotate, Schauspielerporträts und solche Dinge – Pressetexte natürlich – geschrieben. Und dann bekam ich ein Kind, und das ließ sich nicht mehr so gut vereinbaren, der Theaterbetrieb mit immer bis spät in die Nacht und dem kleinen Mädchen. Und dann habe ich mich am Literaturinstitut beworben, das war aber auch schon wieder vor 20 Jahren, glaube ich. Und dann habe ich da studiert und fand es einfach sehr luxuriös, mich mit Schreiben und Texten drei Jahre beschäftigen zu dürfen. Und am Ende dieses Studiums war dann so eine Sammlung von Erzählungen fertig – und das war mein erstes Buch.
Scholl: Sie haben jetzt im neuen Buch eine kleine Statistik aufgemacht, und ich zitiere Sie mal: "Seit dem Frühjahr 2015 habe ich ungefähr 3.800 Füße gepflegt, das sind 19.000 Zehen, ich habe jeden einzelnen dieser Zehen zwischen Daumen und Zeigefinger in den Pinzettengriff genommen." Wie, Frau Oskamp, haben denn diese 19.000 Zehen Ihr Leben auch als Schriftstellerin verändert? Was würden Sie sagen?
Oskamp: Ich glaube, dass ich ein bisschen gelassener geworden bin gegenüber dem Schreiben und dem Literaturbetrieb vor allem. Ich bin geerdet, ich glaube, das war ich vorher schon, aber jetzt bin ich noch mehr geerdet durch meine Kunden und durch dieses zweite Marzahner Leben, das ich führe. Diese Arbeit hat mir schon ab dem ersten Tag eigentlich nur gutgetan.
Scholl: Und von all dem lesen wir in diesem Buch, das heute erscheint. "Marzahn, mon amour – Geschichten einer Fußpflegerin", im Hanser Verlag erschienen, 144 Seiten Umfang, 16 Euro der Preis. Danke soweit, Frau Oskamp!
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