Katrine Marçal: "Die Mutter der Erfindung"
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Verschenktes Potenzial
06:42 Minuten
Katrine Marçal
Übersetzt von Gesine Schröder
Die Mutter der Erfindung. Wie in einer Welt für Männer gute Ideen ignoriert werdenRowohlt Berlin, Berlin 2022304 Seiten
22,00 Euro
Wie viele Erfindungen haben gar nicht erst das Licht der Welt erblickt, weil ihre Urheberinnen kein Gehör fanden? Katrine Marçals gendergeleitete Technikgeschichte analysiert, wie Geschlechtszuschreibungen viele Entwicklungen behindert haben.
In einer männlich dominierten Welt, die vor allem den Vorstellungen eines Geschlechts folgt, liegt die Hälfte des menschlichen Potentials brach. Das ist die Perspektive, aus der Katrine Marçal auf die Geschichte der Innovationen zurückblickt. Und die Beobachtungen, die sie in ihrem Buch schildert, sollten nachdenklich machen.
Ganze Zeitalter sind nach der Verarbeitung von Metallen benannt (Bronze- und Eisenzeit). Aber eine Textilien- oder Töpferzeit taucht in der Geschichtsschreibung nicht auf. Ebenso wird das Weben von Stoffen oder die Fertigkeit zu nähen selten in einer Technikgeschichte erwähnt, obwohl Neil Armstrong ohne die Expertise erfahrener Näherinnen nicht auf dem Mond hätte herumlaufen können. Sind diese „weichen“ Techniken weniger innovativ als das Arbeiten mit Metall, Öl und Elektrizität? Wohl kaum.
Männlich geprägte Weltwahrnehmung
Es ist nach Katrine Marçals Beobachtung vor allem der männliche Blick, der im Laufe der Geschichte definiert hat, was als „technisch“ galt. Aktuell werden 97 % des weltweit investierten Wagniskapitals für neue Projekte und Firmengründungen an Männer ausgeschüttet. Kein Wunder, dass die Welt vor allem von männlichen Vorstellungen geformt wird.
In einem erfrischend umgangssprachlichen Ton sucht Marçal nach einer Erklärung dafür, warum es 5000 Jahre dauerte, bis jemand auf die Idee kam, Rollen unter einen Koffer zu schrauben (eine Erfindung, die erst in Zeiten vermehrt alleinreisender Frauen ihren Durchbruch erlebte).
Über Probleme von früher bis heute
Sie seziert gesellschaftliche Entwicklungen und kommt dabei von historischen Einzelbeispielen zu den Problemen der heutigen Zeit: Der Klimawandel als Folge eines zu „männlich“ geprägten Umgangs mit der Welt. Fehlende Chancengleichheit für Männer und Frauen. Die Veränderung unserer Arbeitswelt in der Zukunft durch Automatisierung: Welche Jobs werden verschwinden?
Bei all dem geht es ihr nie um eine Opposition zwischen Männern und Frauen. Es geht ihr vor allem um all die Attribute, die gemeinhin mit Männlichkeit oder Weiblichkeit assoziiert werden. Diese Zuschreibungen sind oft über lange Zeiträume stabil.
Appell zum Wohle aller
Katrine Marçal deckt auf, wie sie die Entwicklung unserer Gesellschaft als Ganzes mitbestimmen, indem sie beeinflussen, welche Innovationen sich durchsetzen und welche nicht. Dass wir dabei Chancen verspielen, zeigt sie an der Entwicklung der Elektromobilität. Elektroautos scheiterten vor hundert Jahren nicht nur an zu geringer Reichweite, sondern auch, weil sie zu einseitig als weibliches Gefährt vermarktet und wahrgenommen wurden.
„Die Mutter der Erfindung“ ist ein charmant geschriebener und breit recherchierter Aufruf zum Umdenken. Ein Appell, die historisch vernachlässigte Seite „weiblicher“ Attribute stärker wertzuschätzen und einzubeziehen – zum Wohle aller.