Genscher appelliert an Geist der Kooperation in Europa
Der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hat dazu aufgerufen, Europa als Einheit zu begreifen. Es müsse gerade in diesem Jahr der Jubiläen einen Neubeginn in den Beziehungen zu Russland geben.
In Erinnerung an das historische Treffen zwischen dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow im Kaukasus vor 25 Jahren, sagte der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher im Deutschlandradio Kultur, der damalige Geist der Kooperation müsse heute wieder belebt werden. "Es hat in solch einem Fall keinen Zweck zu sagen, der hat das gemacht, der hat das gemacht, sondern da müssen wir die Frage stellen: Was müssen wir jetzt tun?"
Das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen
Genscher erinnerte daran, dass beim Fall der Mauer alle empfunden hätten, dass der Kalte Krieg und die Teilung Europas beendet waren. "Heute habe ich manchmal den Eindruck, dass es im Westen Leute gibt, die nicht das Ende der Teilung sehen, sondern nur eine Verschiebung der Teilungsgrenzen nach Osten", sagte er. "Das wäre ein Missverständnis." Er hätte sich deshalb gewünscht, dass man die Instrumente der Zusammenarbeit wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Osteuropa (OSZE) weiter ausbaue. Man müsse sich die Frage stellen, wie "das Rad der Geschichte" nicht etwa zurückgedreht werde.
Kritik an "Legendenbildung"
Genscher bestätigte erneut, dass es damals bei den Gesprächen zwischen Kohl und Gorbatschow keine Zusicherung gegeben habe, das eine Nato-Osterweiterung in Zukunft ausbleibe. Er verwies auch auf jüngste Äußerungen von Gorbatschow, der von einer "Legendenbildung" gesprochen habe. "Wenn er unsere Version bestätigt, dann ist die sicher auch richtig." Es sei bei den Gesprächen allein um den Status der deutschen Streitkräfte gegangen, die in ganz Deutschland stationiert sein sollten. "Aber es sollten die alliierten Truppen nicht in den östlichen Teil Deutschlands vorrücken." Alles, was vereinbart wurde, habe Deutschland betroffen und nicht etwa andere Länder.
Das Interview im Wortlaut:
Helmut Kohl: Mein Ziel bleibt die Einheit unserer Nation!
O-Ton: Die wichtigste Frage ist für uns, dass uns die Menschen nicht weiter verlassen. Und da wird dieses Wahlergebnis vielleicht ein Signal sein können, aber ich denke, dass die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der nächste wichtige und eindeutige Schritt sein muss.
Sprecherin: Vor 25 Jahren. Auf dem Weg zur Einheit.
Korbinian Frenzel: Dieser Weg zur deutschen Einheit, der kannte eine ganz entscheidende letzte Hürde, die Frage nämlich, ob ein vereinigtes Deutschland Mitglied der NATO sein darf. Heute vor 25 Jahren gab es den Durchbruch in dieser Frage, bei einem Treffen im Kaukasus, oder vielleicht sollte ich besser sagen, bei dem Treffen im Kaukasus zwischen Michail Gorbatschow und Helmut Kohl, eingegangen in die Geschichte als Strickjackendiplomatie, und so klangen die Genannten im Anschluss daran:
Kohl: Ich kann heute mit Genugtuung und in Übereinstimmung mit Präsident Gorbatschow feststellen: Das vereinte Deutschland kann in Ausübung seiner uneingeschränkten Souveränität frei uns selbst entscheiden, ob und welchem Bündnis es angehören will.
Michail Gorbatschow: Die Ergebnisse unserer Begegnung integrieren sowohl die Positionen der Bundesrepublik als auch der Sowjetunion. Ein Teil hat die Bundesrepublik nicht bekommen, einen Teil dessen, was sie wollte. Einen Teil haben wir nicht erreicht.
Hans-Dietrich Genscher: Auf allen Seiten ist das Moskauer Ergebnis begrüßt worden. Das war auch anders nicht zu erwarten, denn es ist ja in den Verhandlungen mit der Sowjetunion genau das erreicht worden, nämlich das vereinigte Deutschland soll Mitglied der NATO bleiben, die Streitkräfte werden nicht nach Osten vorgeschoben.
Frenzel: Helmut Kohl, Michail Gorbatschow, und zum Schluss hörten Sie den Mann, der jetzt mein Gesprächsgast ist im "Studio 9", damals Außenminister und ganz entscheidender Architekt der Deutschen Einheit. Und er saß übrigens auch mit am hölzernen Tisch im Kaukasus. Hans-Dietrich Genscher, guten Morgen!
Genscher: Guten Morgen!
Das Verhältnis zu Deutschland war von zentraler Bedeutung
Frenzel: Wenn Sie sich zurückdenken in diesen Moment: War das die berühmte Chemie, von der Helmut Kohl gerne sprach, die das Unmögliche möglich gemacht hat, diese letzten Hürden zu nehmen auf dem Weg zur deutschen Einheit?
Genscher: Nun, das war ja so, dass vorangegangen unserem Besuch im Kaukasus und vorher in Moskau, ein Besuch von Gorbatschow in den Vereinigten Staaten war, wo zur Überraschung der eigenen Leute Gorbatschow erklärte, dass die Deutsche das selbst entscheiden müssten, welchem Pakt sie angehören, sodass wir darauf aufbauen dann in einer Zusammenfassung die verschiedenen Aspekte der Vereinigung und der Vereinbarungen vornehmen konnten. Das waren vor allen Dingen auch Fragen des deutsch-sowjetischen Verhältnisses in der Zukunft.
Es war erkennbar, dass für die sowjetische Politik Gorbatschows das Verhältnis zu Deutschland von zentraler Bedeutung war, das wollte er langfristig gestalten. Und in dieses Gesamtpaket gehörte natürlich die wichtige Frage, darf Deutschland Mitglied der Nato bleiben, ja oder nein, mit hinein. Für uns war das eine Voraussetzung auch für künftige Stabilität. Das es dabei bleibt, dass das gelungen ist, zeigt, dass auch Gorbatschow richtig verstanden hatte, Deutschland in diesem Paktsystem ist eine bessere Garantie der Stabilität in Europa, als Deutschland in einer neutralistischen Alleinposition.
Frenzel: Wenn man die Bilder von damals sieht, da kann man ja den Eindruck kriegen, es herrschte nur Harmonie. War das so oder gab es auch kritische Momente?
Genscher: Nein, da gibt es natürlich kritische Momente in einer solchen Verhandlung, und bewusst hatte Gorbatschow seine Heimat dafür ausersehen, dass wir diese entscheidenden Dinge besprechen. Aber es war natürlich auch ein Ringen um eine Zukunftslösung, und ich war sehr beeindruckt, wie er in Fernsehaufnahmen dieser Tage, die jetzt gerade gezeigt werden in verschiedenen Programmen, ganz klar sich noch einmal zu den damaligen Vereinbarungen bekennt.
Es ging um den Status der deutschen Streitkräfte
Frenzel: Sie haben damals, wir haben es gehört, in dem O-Ton, das war ein Interview damals im Deutschlandfunk, kurz nach diesem Treffen im Kaukasus, Sie haben gesagt, die Streitkräfte werden nicht nach Osten vorgeschoben. Jetzt kann man sagen, das gilt für die Bundeswehr, jetzt kann man aber natürlich auch sagen, das gilt für die Nato insgesamt, so meinen das viele auch im Ausland, in der Nachfolge der Sowjetunion, verstanden zu haben. War das damals ein Versprechen des Westens im Kaukasus?
Genscher: Also, Gorbatschow hat ja in der von mir erwähnten Fernsehsendung, die wiederholt in diesen Wochen in Deutschland ausgestrahlt wird, gesagt, das sei eine Legendenbildung. Also, wenn es jemand wissen muss, ist es Gorbatschow. Und wenn er unsere Version bestätigt, dann ist die sicher auch richtig. Da sollte man nichts hineininterpretieren. Da ging es um eine ganz andere Frage. Wir hatten uns unterhalten über den Status der deutschen Streitkräfte. Die sollten in ganz Deutschland stationiert sein, aber es sollten die alliierten Truppen nicht in den östlichen Teil Deutschlands vorrücken.
Und das steht auch im Zwei-plus-vier-Vertrag. Alles, was vereinbart wurde, betrifft Deutschland und nicht andere Länder. Alles, was vereinbart wurde, steht im Zwei-plus-vier-Vertrag, dazu finden Sie nichts. Und daneben gibt es nichts, weder mündlich noch schriftlich noch sonst irgendwie. Aber wenn Sie den Zwei-plus-vier-Vertrag aufschlagen, dann werden Sie feststellen, dass dort steht, dass das gesamte Bundesgebiet zur Nato gehört, dass aber die Alliierten, also die verbündeten Streitkräfte in dem Teil Deutschlands, der bis 1990 Deutsche Demokratische Republik hieß, dort hinein werden keine westlichen Truppen rücken. Dabei ist es bis heute geblieben, und dabei wird es auch bleiben.
Gegen den Widerstand der alten Kräfte
Frenzel: Haben Sie den Eindruck, wenn Sie über den Gorbatschow heute sprechen, der ja möglicherweise damit auch nicht unbedingt die Mehrheitsmeinung seines Landes repräsentiert, der Gorbatschow damals, vor 25 Jahren im Kaukasus, war das ein Verhandlungspartner, der schon mit dem Rücken zur Wand stand?
Genscher: Er hatte erhebliche Schwierigkeiten, natürlich weil der Kurs der Perestroika nicht unumstritten war. Das war ja eine fundamentale Änderung der gesamten Politik der Sowjetunion, und dass es dagegen zu einem Widerstand der alten Kräfte kam, ist selbstverständlich. Auf der anderen Seite war Gorbatschow tief beeindruckt, als er im Jahr vorher in Deutschland war, über den Empfang, der ihm hier zuteil wurde. Das hat ihm gezeigt, dass der Wille der Deutschen, in Zukunft mit unseren östlichen Nachbarn engstens zusammenzuarbeiten, ein ehrlicher Wille ist. Ich glaube, schon damals hat die Zuneigung der Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande ihm gezeigt, die Deutschen meinen es ehrlich mit uns.
Frenzel: Haben Sie den Eindruck, dass dieser ehrliche Wille, den Sie von damals beschrieben haben, beschreiben, dass dieser ehrliche Wille Bestand hatte auch in der Politik danach? Oder hat man Russland möglicherweise in den Jahren danach auch ein bisschen zu sehr vernachlässigt?
Genscher: Ich glaube, dass man eines sehen muss: Als später dann die Mauer fiel, als die Mauer gefallen war, habe ich empfunden, und Sie auch und sicherlich jeder andere auch, dass damit der Kalte Krieg beendet ist und auch die Teilung Europas. Und heute habe ich manchmal den Eindruck, dass es im Westen Leute gibt, die nicht das Ende der Teilung sehen, sondern nur eine Verschiebung der Teilungsgrenze nach Osten. Das wäre ein Missverständnis, und ich hätte mir deshalb gewünscht, dass man die Instrumente der Zusammenarbeit weiter ausbaut. Dass wir die OSZE, das große Friedenswerk, das beginnend mit der KSZE den Kalten Krieg beendet hat, eine große Leistung gerade der Bundesrepublik, dass die Konferenz zustande kam und dass sie Ergebnisse hatte. Dass das alles eine neue Phase der Politik einleitet und dass wir deshalb auch jetzt uns heute noch die Frage stellen müssen, was kann geschehen, damit das Rad der Geschichte nicht zurückgedreht wird, sondern dass wir nach vorn blicken und gemeinsam Europa als Einheit verstehen. Denn diese KSZE hat ja auch ein Ergebnis gehabt. Im Herbst 1990 wurde die Charta von Paris unterzeichnet für ein künftiges Europa. Und das ging weit über Europa hinaus, weil die USA und weil Kanada dabei waren und auch der Teil der Sowjetunion, der nicht zu Europa hielt.
Ich denke, dass jetzt ein neuer Anfang gemacht werden muss, und dabei müssen KSZE, OSZE, müssen die Charta von Paris neu belebt werden in dem Geist der Kooperation. Da hat es ohne Zweifel gefehlt, nicht nur im Westen, auch im Osten. Es hat auch in einem solchen Fall keinen Zweck, zu sagen, der hat das gemacht, der hat das gemacht, sondern da muss man die Frage stellen, was müssen wir jetzt tun. Und jetzt tun heißt, dass wir einen Neubeginn machen. Wir haben ein Jahr von Jubiläen. Im September werden wir die Unterzeichnung des Zwei-plus-vier-Vertrages begehen und uns daran erinnern, dass das dann in einen Vertrag umgesetzt wurde, was an anderen Stellen vorbereitet wurde und was auch in den Verhandlungen Zwei-plus-vier erreicht werden konnte. Und das muss man zusammennehmen und Europa, das ganze Europa, Ost und West, als Einheit begreifen und eben versuchen, als Einheit auch zu gestalten.
Frenzel: Hans-Dietrich Genscher. Ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.